Als sie gerade über eine Brücke fuhren, sagte Suska stolz: “Es ist die längste Hängebrücke der Welt für Straßen- und Schienenverkehr. Sie verbindet den Flughafen und die Insel Lantau über eine Strecke von etwa dreieinhalb Kilometern mit dem Festland und der Stadt. Und der Verkehr auf ihr ist jeden Tag so stark wie du ihn jetzt erlebst. Selbst in der Nacht flaut er nur wenig ab.”
Nach etwa fünfundzwanzig Kilometern Fahrt kamen sie ins Zentrum, nachdem sie zuvor an zahlreichen Hochhäusern, einer Art Satellitenstadt, vorbeigefahren waren, und Jan staunte über die viele Reklame in chinesischen Schriftzeichen und über den Strom der Menschen, die wie Ameisen unentwegt in Bewegung zu sein schienen.
“Ist hier tagsüber immer solch ein Betrieb?” fragte er.
“Jeden Tag,” antwortete Suska, “von morgens bis spät abends. Und während der Dunkelheit ist die Reklame an den Häusern und neben und über den Straßen noch beeindruckender als jetzt bei Hellem. Du wirst es heute Abend selbst erleben. Und morgen werde ich dich meinen Eltern vorstellen. Sie sind sehr gespannt auf dich und freuen sich darauf, dich kennen zu lernen. Ich schlage vor, dass ich dir morgens erst einmal ein bisschen die Stadt zeige und dass wir gegen Mittag zu ihnen fahren. Du bist zum Mittagessen eingeladen.”
Suska blickte kurz zur Seite, und Jan schmunzelte etwas verlegen, als sie von ihren Eltern sprach und er seinen Kopf zu ihr drehte und sie anschaute. Er sagte jedoch nichts dazu.
Dann steuerte sie die Tiefgarage an, die zu dem Hotel gehörte, in dem sie für Jan ein Zimmer reserviert hatte.
“Das Hotel heißt “The Salisbury - YMCA of Hongkong”, sagte sie beim Aussteigen, “und steht an der Salisbury Road. Es ist kein Luxushotel, aber es ist sehr ordentlich und liegt verkehrsmäßig außerordentlich günstig. Eine zentralere Lage gibt es kaum. Du wirst das bald merken. Gleich nebenan befindet sich übrigens das Hotel “Peninsula”, eines der exklusivsten Hotels der Welt. Aber da wolltest du dich ja nicht unterbringen lassen, obwohl ich, wenn es nach mir gegangen wäre, dir auch dort ein Zimmer besorgt hätte.”
“Um Gottes Willen,” stöhnte Jan, “das Zimmer in einem Luxushotel hätte ich nicht bezahlen können. Und dann wüsste ich auch nicht, wie ich mich in einem solchen Hotel bewegen müsste. Derartige Herbergen sind nicht meine Welt.”
Suska lachte und meinte, er würde sich schon sehr bald an eine vornehme Umgebung gewöhnt haben. So etwas gehe schneller als man glaube.
“Wenn du willst, gehen wir dort mal Kaffee oder Tee trinken,” sagte sie noch, “in einer sehr gepflegten Atmosphäre, nachmittags sogar bei Musik, gespielt von einer Kapelle. Erst einmal solltest du dich jedoch ein bisschen mit der Stadt vertraut machen.”
Jan sagte nichts dazu, sondern schaute sie nur lächelnd an.
Beide begaben sich dann in die Lobby und zur Rezeption des Hotels, wobei Suska wieder seinen Koffer zog, obwohl Jan dagegen vorsichtig protestierte. Aber er ließ sie letztlich gewähren, weil er spürte, dass sie sich ihm gegenüber selbst hinsichtlich seines Koffers verantwortlich fühlte. Er sollte wohl in jeder Weise seine Umgebung unbelastet wahrnehmen können.
Die Formalitäten an der Rezeption wurden im Wesentlichen von Suska erledigt, die mit dem Hotelangestellten fließend Englisch sprach. Jan, der das selbstsichere Auftreten seiner Freundin beim Einchecken bewunderte, brauchte nur seinen Pass vorzulegen, einige Fragen zu beantworten, die Suska jeweils übersetzte, und eine Unterschrift zu leisten. Er war froh darüber, dass seine Freundin fast alles für ihn erledigte. Er hätte wegen seiner geringen Englischkenntnisse wahrscheinlich Schwierigkeiten mit den Formalitäten an der Rezeption gehabt, zumal er spürte, dass er vom langen Flug, von der Zeitumstellung und von den vielen neuen Eindrücken in der fremden Stadt ziemlich müde war. Dann ließ sich Suska eine kleine Karte geben, auf der das Hotel und die Anschrift in englischer und chinesischer Sprache vermerkt waren. Das Kärtchen übergab sie anschließend Jan mit der Empfehlung, es für alle Fälle stets bei sich zu tragen, um es notfalls jemandem zeigen zu können, wenn er den Namen und die Lage des Hotels vergessen habe. Ihre Handy - Nummer habe er ja. Und wenn er in irgendeiner Weise in Schwierigkeiten sei, solle er sie anrufen, auch nachts, sie sei immer für ihn da.
Als Jan mit Suskas Hilfe an der Rezeption zweihundert Euro in Hongkong – Dollar umgetauscht hatte, sagte sie noch, bevor beide den Fahrstuhl aufsuchten und nach oben fuhren: “Dein Zimmer befindet sich auf der obersten Etage des Hotels. Es ist eins mit Hafenblick und wird dir sicher gefallen. Du hast von dort aus einen phantastischen Ausblick.”
Wahrend der kurzen Fahrt im Fahrstuhl umarmte und küsste sie ihn und sagte: “Ich bin glücklich, dass du endlich da bist. Ich habe mich so nach dir gesehnt. Während der letzten Tage war ich sehr unruhig, weil ich immer mal wieder befürchtete, dass etwas dazwischen kommen könnte und du die Reise absagen müsstest.”
Dann betraten sie das Zimmer, das sehr sauber und gutbürgerlich ausgestattet war.
Jan ließ seinen Koffer mitten im Raum stehen, den er von der Rezeption bis zum Zimmer selbst gezogen hatte, worauf er bestanden hatte, und ging langsam staunend zum Fenster, während Suska etwas abseits verharrte und ihn lächelnd beobachtete.
“Ist das eine Aussicht,” sagte er nach einigen Sekunden der Bewunderung. “Mann, ist das ein Ausblick. Hier könnte ich stundenlang stehen und zu den Hochhäusern jenseits des Wassers hinüberblicken.”
“Bei Dunkelheit, wenn auf der anderen Seite des Hafens die Lichter auf den Straßen und in den Häusern angeschaltet sind, ist der Anblick nach drüben noch phantastischer. Du wirst es heute Abend erleben, besonders wenn ab acht Uhr für mehrere Minuten zahlreiche Laserstrahlen in unterschiedlichen Farben an den Häusern hoch zucken,” klärte Suska ihn auf und schwieg danach eine Weile. Dann fuhr sie fort und zeigte auf die Skyline jenseits des Wassers: “Dort drüben ist Hongkong Island, und wo wir uns hier befinden, ist Kowloon, und alles zusammen ist die Stadt Hongkong. Und der Berg hinter der Skyline ist unser Hausberg und ist etwa vierhundert Meter hoch. Wir nennen ihn Peak, der zu Fuß umrundet werden kann, und zu ihm hoch kann man mit der Peak - Bahn fahren. Wir werden das an einem der nächsten Tage mal tun. Von da oben hast du einen wunderbaren Blick auf unsere Stadt, besonders bei Nacht ist er geradezu atemberaubend.”
Beide schwiegen einen Moment und schauten aus dem Fenster. Dann setzte Suska ihre Aufklärung fort: “Das Wasser zwischen Kowloon und Hongkong Island wird zwar als Hafen bezeichnet; als Victoria Harbour, der Industriehafen, wo die großen Frachtschiffe anlegen, ist jedoch nicht hier, sondern weiter nördlich. Kreuzfahrtschiffe legen aber auch in unmittelbarer Nähe des Stadtzentrums an, am Ocean Terminal, nur einige hundert Schritte vom Hotel entfernt. Wenn wir Glück haben, wirst du heute Abend ein solches Schiff aus unmittelbarer Nähe bewundern können. Und das große, fast fensterlose Gebäude unter uns jenseits der Straße, das mit den gelben Kacheln und dem nach unten geschwungenen Dach, über das wir hinweg blicken können, ist das Kulturzentrum von Hongkong, in dem Konzerte und Theateraufführungen stattfinden und in dem sich auch ein Kunstmuseum befindet. Was sich der Architekt und die für die Genehmigung des Baues zuständigen Leute allerdings dabei gedacht haben, das Haus in dieser einzigartigen Lage fast fensterlos zu gestalten, wissen sie wohl selbst nicht. Und rechts neben dem Kulturzentrum ist die Anlegestelle der Star Ferry, der doppelstöckigen Fähre mit den etwas plump aussehenden weiss - grünen Schiffen, die nahezu pausenlos zwischen Kowloon und Hongkong Island hin und her pendeln und Tag und Nacht zigtausend Menschen zwischen den beiden Stadtteilen befördern. Wir werden sicherlich mehrere Male mit ihr fahren, und jedes Mal wird es für dich, aber auch für mich, ein Erlebnis sein.”
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