In der Folgezeit war er noch zweimal bei Suskas Oma zum Kaffee eingeladen worden, und nach seinem Eindruck war sie jedes Mal über seinen Besuch erfreut gewesen.
Dann war für Suska Ende Oktober der Abreisetag gekommen, der für beide eine traurige Angelegenheit gewesen war. Aber seine Zusage, sie Ende November in Hongkong zu besuchen, hatte ihre Bedrückung über die Trennung gemindert.
Nach der Verabschiedung am Flughafen Hamburg hatte ihn Suskas Oma in ihrem Auto nach Hause gefahren und ihn gebeten, sie bei Gelegenheit wieder zu besuchen; er brauche keine Hemmungen zu haben, hatte sie gesagt, er solle aber vorher anrufen, sie freue sich, mit ihm plaudern zu können. Und er hatte damals den Eindruck gehabt, dass sie es ehrlich gemeint hatte. Dann hatten sie ihre Telefonnummern ausgetauscht. Aber zu einem Besuch war es nach Suskas Abreise noch nicht wieder gekommen.
Mit Suska hatte er jedoch fast täglich per E-mail kommuniziert. Auch hatte er wiederholt mit ihr telefoniert. Die Anrufe waren jeweils von ihr gekommen. Auf seine gelegentlichen Bedenken, die Telefonate könnten für sie zu teuer werden, hatte sie ihn beruhigt und erklärt, er brauche sich über die Kosten keine Sorgen zu machen. Ihre Eltern wüssten über ihre Anrufe Bescheid, und ihr Vater habe sie sogar schon einige Male von sich aus animiert, doch mal wieder bei ihm in Hamburg anzurufen. Er war nach alledem davon ausgegangen, dass Suskas Eltern keine finanziellen Probleme hatten. Genaues wusste er jedoch nicht darüber. Nur einmal hatte Suska erwähnt, ihr Vater sei ein Geschäftsmann, ein sehr erfolgreicher sogar, und Jan hatte darauf nicht nach Einzelheiten gefragt.
Jan wurde aus seinen Erinnerungen an Suska und ihre Oma gerissen, als die Flugbegleiterinnen damit begannen, den Passagieren ein heißes, nasses Frotteetuch zu reichen, mit dem sie ihr Gesicht und ihre Hände waschen konnten. Ein Blick auf den Monitor klärte ihn auf, dass der Flieger in zwei Stunden und zehn Minuten in Hongkong landen würde.
Die Tücher wurden nach der Benutzung wieder eingesammelt, und danach wurde ein Frühstück serviert, das bis zum Abräumen etwa eine Stunde in Anspruch nahm. Anschließend hatte Jan den Eindruck, dass seine Mitreisenden - wie er selbst - die noch verbleibende Zeit bis zur Landung in Hongkong in erwartungsvoller Spannung verbrachten.
Die Landung des Jumbos auf der Hongkong vorgelagerten kleinen Insel Chek Lap Kok unweit der größeren Insel Lantau war butterweich. Von Suska hatte er erfahren, dass der Flughafen auf dieser Insel erst vor einigen Jahren gebaut worden sei und dass sie durch Aufschüttungen habe vergrößert werden müssen, weil die ursprünglich vorhandene Fläche für das erforderliche Flughafengelände nicht ausgereicht habe. Der alte Flughafen Kai Tak, dessen Start- und Landebahn man ins Meer gebaut habe, sei nach Fertigstellung des neuen stillgelegt worden. Die Starts und besonders die Landungen auf dem alten Flughafen, der sehr stadtnah gelegen habe, seien abenteuerlich gewesen. Die landenden Flugzeuge seien so dicht über den Dächern der Stadt hereingekommen, dass man als Beobachter jeweils befürchtet habe, sie könnten die Schornsteine der Häuser berühren. Es sei auch schon mal vorgekommen, dass ein Flugzeug nicht rechtzeitig vor dem Ende der Landebahn zum Halten gekommen und auf der Kante am Ende der Bahn über dem Wasser hängen geblieben sei. Das habe sie zwar nicht selbst gesehen, aber es sei erzählt worden und habe auch in der Zeitung gestanden. Ins Meer sei nach ihrer Kenntnis aber noch kein Flieger bei der Landung auf dem alten Flughafen geraten. Jan erinnerte sich in diesen Augenblicken auch daran, dass Suska bei seinem Versuch gelacht hatte, die Namen der beiden Flughäfen richtig auszusprechen.
Als der Jumbo am Gate angelegt hatte, dauerte es für Jan, da er hinten im Flugzeug saß und alle Passagiere vorn aussteigen mussten, noch einige Minuten, bis er die Kabine verlassen konnte. Er ging anschließend seinen Mitreisenden nach, die den Hinweisschildern “Baggage Claim”, also Gepäckausgabe, folgten, und er erhielt bei der Passkontrolle ein Einreisevisum, das ihn berechtigte, drei Monate in Hongkong zu bleiben. Dann erreichte er nach einem langen Weg im Flughafengebäude das Gepäckband, auf dem die Koffer aus dem Lufthansa - Jumbo zu den wartenden Passagieren befördert wurden.
Nach etwa zehn Minuten hatte er seinen Koffer, und nun stand ein Wiedersehen mit Suska unmittelbar bevor. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, als er, seinen Koffer hinter sich herziehend, eine Tür durchschritt, über der in großen Buchstaben “Exit” stand und darüber etwas in Chinesisch, was wahrscheinlich ebenfalls “Ausgang” bedeuten sollte. Aber Jan konnte es nicht lesen.
Jenseits der Ausgangstüren standen sehr viele Menschen, die offensichtlich auf ankommende Flugpassagiere warteten, die sie abholen wollten. Für Jan war das alles unübersichtlich und verwirrend.
Als er Suska nach dem Durchschreiten der Ausgangstür nicht gleich entdeckte, reckte er seinen Kopf und hielt unruhig Ausschau nach ihr. Aber er bemerkte sie zunächst nicht, was ihn in eine leichte Nervosität versetzte.
Dann spürte er plötzlich ein Tippen auf seiner rechten Schulter. Er drehte sich um und sah in Suskas strahlendes Gesicht. Er stellte seinen Koffer ab, und beide umarmten und küssten sich.
“Ich bin glücklich, dass du endlich angekommen bist,” sagte sie, und ihre Augen waren dabei feucht. “Die Zeit bis zu diesem Augenblick war viel zu lang für mich. Ich konnte ihn kaum erwarten.”
“Mir ging es ebenso,” stotterte Jan, noch etwas durcheinander von den bisherigen Reiseerlebnissen, und fügte dann staunend hinzu: “Ist das hier ein Betrieb. Meine Güte, die vielen Menschen. Wenn er in der Stadt auch so sein sollte, darfst du nicht von meiner Seite weichen, sonst bin ich wahrscheinlich verloren.”
“Warte ab,” sagte sie lächelnd, hakte sich bei ihm ein, nahm seinen Koffer und zog ihn hinter sich her. Als er dagegen vorsichtig protestierte, meinte sie, er sei ihr Gast, sie sei hier zu Hause und mit einem Transport von Koffern kenne sie sich bestens aus, er solle sich unbelastet umschauen und erste Eindrücke von Hongkong in sich aufnehmen, auch wenn er vom langen Flug wahrscheinlich etwas müde sei.
Jan ließ sie schmunzelnd gewähren.
Dann erreichten sie das Parkhaus, in dem Suska ihren zweisitzigen Sportwagen abgestellt hatte.
“Darf ich bitten,” sagte sie lächelnd, nachdem sie die Türen ihres Autos geöffnet und seinen Koffer im relativ kleinen Kofferraum des Wagens verstaut hatte.
Als Jan neben ihr saß, erwähnte sie, dass ihr kleines Auto, das sie in Hamburg gefahren habe, in einer Garage ihrer Oma stehe. Abgemeldet habe sie es während ihrer Abwesenheit aber nicht, da sie sicherlich bald wieder nach Hamburg fliege und es dann erneut benutzen wolle.
Jan fiel auf, dass sich das Lenkrad nicht links, sondern rechts im Auto befand, und als Suska seine leichte Verwunderung darüber bemerkte, klärte sie ihn auf, dass in Hongkong Linksverkehr herrsche, was noch ein Überbleibsel aus der britischen Kolonialzeit sei.
Während der Fahrt in die Stadt fragte sie zunächst, wie der Flug verlaufen sei und schwärmte dann, als Jan alle ihre Fragen, die nicht allein den Flug betrafen, beantwortet hatte: “Haben wir nicht ein herrliches Wetter heute? Blauer Himmel und klare Luft. Etwa fünfundzwanzig Grad. Du kannst froh sein, dass dein Besuch in den November und Dezember fällt. Diese Monate sind für Hongkong - Besucher ideal. Es ist für sie, aber auch für uns, die beste Jahreszeit. Im Sommer ist es hier häufig sehr heiß und schwül.”
Und dann begann sie etwas schwärmerisch von Hongkong zu erzählen, erklärte Auffälligkeiten, an denen sie vorbeifuhren, und Jan spürte, dass sie diese Stadt liebte. Obwohl er vom Nachtflug und wegen der Zeitumstellung ziemlich müde war - er hatte bisher nie eine ganze Nacht in einem Flugzeug verbracht - hörte er interessiert zu, stellte Fragen und spürte, dass die Faszination, die ihn schon beim Lesen des Reiseführers ergriffen hatte, mehr und mehr wuchs je näher sie der Stadt kamen. Während der Fahrt auf der Autobahn in Richtung Zentrum stellte er fest, dass Hongkong im Norden, Osten und Süden von mittelhohen Bergen umgeben war, die der Stadt eine fast idyllische Lage gaben.
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