Als kleiner Junge wusste er hier gut Bescheid und kannte jeden Busch und Pfad. Jedes Moorloch erkannte er von weitem, doch wie hatte sich die Landschaft in den Jahren seiner Abwesenheit verändert! Er schulterte seinen Seesack und marschierte los. Die alten, ihm vertrauten Pfade existierten nicht mehr, das von Gräben und Torfgruben durchzogene Land war ihm fremd geworden. Je weiter der junge Seemann in das Teufelsmoor vordrang, umso unwirtlicher wurde die Gegend, und die deutlichen Zeichen beginnender Zivilisation blieben zurück. Wasser quoll bei jedem Schritt unter den Stiefeln hervor, aus feinen Spalten fauchte das Sumpfgas oder brachte das Wasser der kleinen Tümpel zum Brodeln. Sumpfhühner ließen ihr grelles Pfeifen hören und im Schilf raschelte es, ohne dass Johannes den Grund dafür zu Gesicht bekam. Die Dämmerung schritt rasch voran, und die Dunstschleier, die über das Land wehten, tanzten einen Ringelreihen. Abgestorbene Baumstümpfe verloren ihre wahre Gestalt, duckten sich zu düsteren Ungeheuern, die am Rande kleiner Inseln auf einsame Wanderer lauerten. Johannes beeilte sich, denn er ahnte, dass es für ihn mehr als gefährlich werden würde, wenn ihn die Dunkelheit einholte. Noch vor Anbruch der mondlosen Nacht musste er die Hütte auf der kleinen Erhebung erreicht haben, sonst war er verloren.
Furcht und Zweifel breiteten sich in ihm aus und machten ihn unachtsam. Er fluchte laut, als er bis zum Knie in ein Moorloch sank, sich aber noch geistesgegenwärtig zur Seite warf, wo er mit Armen und Oberkörper wieder festen Halt fand. Mühsam zog er sich auf die kleine feste Stelle in dem schwankenden Untergrund und hielt einen Moment inne um zu verschnaufen.
»Nicht rasten!«, schoss es ihm durch den Kopf, »Weiter! Du musst weiter!«
Er stemmte sich hoch, orientierte sich und wandte sich nach Osten, wo der kleine Pfad sein musste, der ihn bis zur Hütte seiner Mutter bringen würde. Doch schon der nächste Schritt ließ ihn ins Leere fallen, die Grasbüschel hatten keinen festen Untergrund, schwammen trügerisch auf einem der Sumpflöcher und Johannes versank im moorastigen Wasser. Nichts war da, was er hätte fassen können. Nichts, was ihm irgendwie Halt geboten hätte. Voll Panik schlug er mit den Armen um sich, spürte das Wasser durch seine Kleidung dringen, fühlte den Tod, wie er mit kalten Klauen nach ihm griff und sank immer tiefer. Voller Grauen sprangen ihn die Spukgestalten aus den Geschichten vom Moor an, die knochigen Leiber der angeblichen Hexen, die man in die Sumpflöcher gestoßen hatte. Der Dieb, der während einer Hochzeitsfeier das Brautgeld stahl und dessen Flucht in einem der Moorlöcher endete. Kleine Kinder, die im arglosen Spiel einen unbedachten Schritt getan hatten, sie alle streckten ihre bleichen Hände nach ihm aus, griffen nach ihm, um ihn zu sich hinab zu ziehen in die braune Tiefe.
Die kleine, abgemagerte Frau hob den Kopf, als lausche sie auf ein fernes Geräusch. Man sah ihr das schwere Leben an den scharfen Linien an, die sich im Laufe der Jahre in ihr Gesicht gegraben hatten. Das Aufstehen fiel ihr schwer, doch sie erhob sich mühsam und ging gebeugt zu der aus Brettern notdürftig zusammengenagelten Tür, die windschief in den Angeln hing und beim Öffnen laut knarrte. Sie trat vor die niedrige Hütte, die als solche kaum noch zu erkennen war. Ein vorbeigehender Wanderer hätte wohl nur einen mit Moos bewachsenen Erdhügel wahrgenommen, aus dem ein moderiger Geruch strömte. Die Frau lauschte in die Dunkelheit und schaute auf die weißen Schwaden, die an ihr vorbei über das Moor schwebten.
»Johannes?«, fragte sie voller Hoffnung. »Johannes, bist du es? Kommst du endlich heim?«
Das Wispern im Schilf wurde lauter und die Frau schaute nach Westen.
»Jooohaaannes!«, schrie sie und erschrak vor ihrer eigenen Stimme, welche laut die Einsamkeit durchschnitt wie ein Schwert.
»Jaaaa! Er ist es«, wisperte das Moor und ein kalter Wind ließ die Frau frösteln. »Und er stirbt gerade!«
»Neiiiin!«
Es war ein Schrei voller Verzweiflung und Schmerz, der durch die Nacht hallte. »Moor! Hast du mich all die Jahre nur am Leben gehalten, um mir jetzt alles zu nehmen?«, schluchzte die Frau.
»Es ist, wie es ist«, raunte es aus den Wollgrasbüscheln. »Einzig und allein die Moorwaage könnte es noch verhindern!«
»Was ist das?«, schrie die in sich zusammengesunkene Gestalt vor der Hütte mit gepeinigter Seele.
»Was das Moor genommen hat, gibt es nicht wieder her«, murmelte es aus den tausend kleinen Quellen rund um die kleine Erhebung, auf der das armselige Häuschen stand. »Es sei denn, du gibst dem Moor etwas, das mehr Bedeutung hat, als das, was es sich schon nahm! So wird es das Genommene wieder hergeben!«
Gerti kam taumelnd auf die Füße.
»Etwas, das mehr aufwiegt als mein eigenes Kind?«, schrie sie voller Schmerz. »Was soll das sein?«
Sie wandte das tränenüberströmte Gesicht zum nachtschwarzen Himmel und sah die Sternschnuppe, die mit langem Schweif vorüberjagte um in der Lufthülle zu verglühen. Da wurde Gerti ganz ruhig.
»Ich kenne nur eines, das schwerer wiegt, als der Junge, den du mir nehmen willst«, murmelte sie und ging zum Rand der Insel, die über Jahre und Ewigkeiten hinweg ihre Heimat gewesen war. »Die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind«, hauchte sie.
Sie blieb nicht stehen, ging weiter, immer weiter, bis sie den festen Halt unter den Füßen verlor und in der endlosen Schwärze des nächtlichen Moores versank.
Johannes hörte, wie es um ihn herum blubberte. Sprudelnd stiegen von unten her Gasblasen in dem Sumpfloch empor, drangen unter seine Kleidung und hoben ihn hoch. Er fühlte deutlich, dass er empor geschwemmt wurde, kleine Wirbel beschleunigten seinen Auftrieb. Sein Kopf durchbrach die Oberfläche des Wasserlochs und der sprudelnde Luftwirbel trieb ihn an dessen Rand. Atemlos zog sich der Bootsmann auf das rettende Ufer, pumpte keuchend seine Lungen voll mit Luft, die kühl und würzig schmeckte, aber auch moderig und nach Tod. Das Letzte, was er wahrnahm, bevor ihn eine Ohnmacht umfing, war ein Raunen, das aus der Weite der Moorfläche zu kommen schien.
»Geh! Du bist frei! Die Liebe deiner Mutter hat dich aufgewogen!«
Dann verließen ihn seine Sinne.
Der Torfschiffer sah den Jungen am Ufer sitzen und änderte den Kurs. Mit leisem Scharren schob sich der Rumpf des Bootes auf das Ufer und Johannes sprang in den Kahn, der voll beladen war mit dem Torf aus dem Moor. Er stieß das Boot vom Ufer ab und setzte sich wortlos auf eine Bank. Der Schiffsführer brachte genau so wortlos das Boot wieder auf Kurs, stellte das Segel in den Wind und während sie mit leise rauschender Bugwelle die Hamme hinab zum Umschlagplatz der kleinen Stadt segelten, fiel nicht ein Wort zwischen ihnen.
Schon kamen die ersten Masten der Segelschiffe in Sicht, die im Hafen von Vegesack lagen, als der Torfschiffer sich räusperte und fragte: »Un? Hest all funnen, wat du sökt hest?«
Johannes nickte und sprang behände auf den Kai.
»Das, was von allem am schwersten wiegt«, erwiderte er. Seine Augen suchten und fanden die „Katharina“, auf der gerade die Segel gehisst wurden und er beeilte sich an Bord zu kommen.
Allein
oder mit wenigen
auf einem Schiff.
Getragen von den Wellen der See,
gewiegt vom Atem des Meeres.
Umgeben von Abenteuern,
vergangenen und zukünftigen.
Gefangen
von denen, die jetzt sind –
Sehnsucht,
die körperlich ist
und schmerzt.
In mir keimte ein Verdacht. War es möglich, dass ich in einem früheren Leben einmal ein Wikinger gewesen war? Anders war es nicht zu erklären, dass es mich mit magischer Kraft immer wieder an die Ostsee zog, wobei es mir eigentlich egal war, ob es an die dänische Ostsee oder die schleswig-holsteinische Küste ging. Hauptsache, das Wasser schmeckte nach Salz und die Luft roch nach Tang und Dorsch. Ich konnte mich nicht satt sehen an den hellen Steilküsten der Inseln, den dunklen, grünen Wäldern und dem leuchtenden Gelb der Rapsfelder. Das helle Grün der Wiesen und das ständige Wechselspiel der Farben im Wasser der Ostsee beeindruckten mich auf geradezu unheimliche Weise. Ich sah mich in Gedanken auf den Spuren Eriks des Roten wandeln, gekleidet in ein Wams aus Leder, mit einer Fellweste und einem zünftigen Kriegerhelm. Bewaffnet mit einem kunstvoll geschmiedeten, zweischneidigen Schwert und einer wuchtigen Streitaxt. In meinen Träumen stand ich am Bug meines Langschiffes, neben dem hochgezogenen, drachenkopfgeschmückten Vorsteven und ließ den stahlharten Blick meiner blauen Augen über die Weiten der See wandern, auf der Suche nach lohnender Beute. Bei Thor und Odin, welch ein Leben! Es hätte mir gefallen, damals.
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