»Der ist noch nicht lange hier im Westen! Steht schon den ganzen Nachmittag da und hat nicht einen Fisch gefangen«, raunte der alte Mann mir zu. »Benutzt auch vollkommen unbrauchbare Köder.«
Ich deutete auf die Schachtel, in der mein Gegenüber seine aus Heringsfleisch geschnittenen Köder aufbewahrte. Er hatte mehr als er heute brauchen würde.
»Warum geben Sie ihm nicht davon ab?«, fragte ich ihn.
»Die haben uns damals in Sibirien auch nichts abgegeben«, antwortete er voller Bitterkeit. Er drehte sich abrupt um und widmete sich wortlos wieder seinen Angelruten. Unser Gespräch schien beendet, doch noch zögerte ich einen Herzschlag lang. Schließlich wandte ich mich um, denn es zog mich weiter in Richtung See. Als ich kurz den Kopf drehte, sah ich den alten Angler unschlüssig mit seiner Köderschachtel in der Hand auf dem Steg stehen. Ein Ruck ging durch den Mann und schleppend ging er die wenigen Schritte zu dem glücklosen Angler hinüber und hielt ihm auffordernd die Büchse hin.
Am Kopf der Seebrücke dümpelten zwei Boote in der leichten Dünung und einige signalrot gekleidete Männer und Frauen kletterten darauf herum. Man bestaunte die technische Ausrüstung des jeweils anderen Schiffes und die Hände wiesen und zeigten auf dies und das, schwenkende Arme bekräftigten, was Worte nur unzureichend erklären konnten. DLRG stand in großen Lettern an dem kleineren, offenen Motorboot, welches zur Patrouillenfahrt vor dem Badestrand eingesetzt wurde. DGzRS stand an dem anderen, seetüchtig und unsinkbar gebauten Boot, welches jedoch wiederum nur ein Tochterboot jenes mächtigen Seenotrettungskreuzers war, der im Hafen auf Station lag.
»Es war sehr mutig von euch, trotz des aufgewühlten Wassers zu dem abtreibenden Schwimmer hinauszufahren«, stellte der Vormann des Rettungskreuzers fest. »Allerdings war euer altes Boot für so einen Einsatz nicht gebaut. Dieses hier, das Neue, ist kentersicher.«
»Wenn ihr nicht gekommen wärt, hätte es anstelle von einem drei Tote gegeben«, antwortete ihm einer der Rettungsschwimmer. »Das Boot kippte in einer Welle, als wir den Ertrinkenden hineinziehen wollten. So ist es gerade noch einmal gut gegangen. Euer Tochterboot war schnell zur Stelle. Danke!«
»Sind wir nicht alle dafür da, schnell zur Stelle zu sein?«, meinte der Vormann und schüttelte die ihm dargebotene Hand.
»Papi! Papi! Jetzt mache ich einen Kopfsprung!«, rief der Junge seinem Vater im Wasser zu, der gerade vom Geländer der Seebrücke mit einem Hechtsprung in die Fluten der Ostsee eingetaucht war. Der Bengel kletterte auf die hölzerne Brüstung und verhielt dort. In seinen weit aufgerissenen Augen stand die Angst, in seinem Gesicht die Entschlossenheit, es seinem Vater gleichtun zu wollen.
»Wenn du das machst, gehen wir gleich noch ein großes Eis essen«, lockte der Ältere den Jüngeren, versuchte ihm so die Angst vor dem Sprung zu nehmen. Zitternd vor Aufregung schnappte der Junge nach Luft, dann sprang er. Kopfüber stürzte er in die Fluten. Es planschte ordentlich, und das Wasser spritzte nach allen Seiten als er eintauchte.
»Junior, das war klasse!«, lobte der Vater voller Begeisterung und Freude über den ersten Kopfsprung des Jungen, als der neben ihm den Kopf aus dem Wasser streckte.
»Los, Papa!«, prustete der. »Jetzt wir beide zusammen! Wer zuerst an der Leiter ist!«
Ich ging den Weg über die Brücke zurück und lächelte. Die allerletzten Sonnenstrahlen schienen mir direkt ins Gesicht und ich spürte die feurige Wärme und die Kraft unseres Sterns. Die beiden Angler standen jetzt dicht beieinander und freuten sich gemeinsam über einen prächtigen Hornhecht, den der russischstämmige Petrijünger gerade aus der See gezogen hatte.
»Wladimir! Er heißt Wladimir!«, rief der alte Angler mir zu. »Und er kann doch Angeln!«
»Waldemar! Ich cheißen Waldemar«, lachte der „Deutsch-Russki“ und hielt mir voller Stolz seinen Fang entgegen, den ich mit Applaus bedachte bevor ich weiter ging.
Noch immer stand das Pärchen am Brückengeländer, eng aneinander geschmiegt in zärtlicher Umarmung, hoffend, eine Lösung für das Problem zu finden.
»Come on«, flüsterte sie leise und zog ihn von der Brücke in Richtung Strandpromenade. »Sei nicht traurig. In unsere letzte Nacht ick will nicht, dass du bist traurig! I will make you happy, my dear! Morgen ist eine andere Tag und we will see, what tomorrow brings!«
Arm in Arm verließen sie die Brücke und gingen einer Nacht voller Liebe und Hoffnung entgegen.
Eine blonde Frau in einer weißen Windjacke kam mir im feurig-roten Schein der versinkenden Sonne von Land her entgegen. Sie wich mir nicht aus, kam direkt auf mich zu und blieb vor mir stehen.
»Warum bist du allein weggegangen?«, fragte sie mit leichtem Vorwurf in der Stimme.
»Ich musste nachdenken, meinen Kopf vom Wind klar pusten lassen«, sagte ich leise.
»Bist du noch böse wegen unseres Streits?«, wollte sie wissen.
»Nein! Vermutlich hattest du mit allem recht und ich war nur starrköpfig. Ich glaube, die Sache war eine Auseinandersetzung nicht wert.«
Ich legte meinen Arm um ihre Schultern und ging mit ihr den Weg über die Seebrücke zurück an Land. Eine Brücke die nichts miteinander verbindet, ein ganz und gar sinnloses Bauwerk.
»Junge, und du bist dir deiner Sache völlig sicher? Du willst wirklich von Bord gehen?«
Man konnte es dem alten Kapitän ansehen, dass es ihm nicht recht war seinen besten Matrosen zu verlieren. Die Gedanken des „Alten“ kehrten zurück zu dem Zeitpunkt, als der Junge vor ihm auf dem Kai stand. Zerlumpt, abgerissen und abgemagert, eher ein Häuflein halb verhungertes Elend, als das Abbild eines Matrosen. Die nackten Füße schmutzig, das lange Haar wirr und ohne erkennbare Frisur.
»Na Moses! Wo kommst du denn her?«, wollte der Kapitän von ihm wissen und der Junge zeigte die Lesum hinauf, den kleinen Nebenfluss der Weser, der seinen Ursprung hoch oben in den Mooren weit hinter Bremen hatte und hier am Vegesacker Hafen in den großen Strom mündete.
»Und wohin willst du?«, forschte der Kommandant des Handelsseglers weiter.
Johannes deutete einfach nur auf das Schiff und zeigte dann die Weser hinab in Richtung Meer.
»Junge, und du bist dir deiner Sache völlig sicher? Du willst hier an Bord anheuern?«
Johannes nickte einfach nur und der „Alte“ winkte ihm an Bord zu kommen. Johannes erklomm die Gangway und stand einen Herzschlag später vor seinem Kapitän, der von nun an nicht nur sein oberster Herr sein sollte. Der Junge lernte auf dem Segelschiff sein Handwerk, stieg auf vom Moses bis zum Bootsmaat und wuchs zu einem großen und kräftigen jungen Mann heran. Den Atlantik hatte er überquert, war durch das Mittelmeer bis nach Konstantinopel, dem früheren Byzanz gesegelt. Er kannte das Kap und den Tafelberg an der Südspitze Afrikas und die Häfen der arabischen Welt. Er durchkreuzte Taifune im indischen Ozean und kehrte mit den besten Seidenstoffen und seltensten Gewürzen zurück. Wertvolle Edelsteine, ausgesuchte Teesorten, Säcke voller Kaffeebohnen, es gab nichts, was nicht schon im Laderaum der „Katharina“ befördert worden war.
Doch jetzt sollte es genug sein. Der Lederbeutel, in dem er seine Heuer und den Anteil am Erlös der Ladung stets gehortet hatte, war prallvoll und das Geld würde ihm und seiner Mutter ein bescheidenes aber sorgloses Leben ermöglichen. Sein Blick wanderte hinauf in die Lesummündung, seine Gedanken eilten zurück an den Ort, von dem er vor langer Zeit ohne Abschied aufgebrochen war und er hoffte, bei seiner Rückkehr noch alles so vorzufinden, wie er es kannte. Ein tiefer Blick in die Augen des „Alten“, der ihn die Jahre über mehr wie einen Sohn denn wie einen Matrosen gehalten hatte, sagte beiden mehr als Worte. Der Abschied war kurz aber Johannes wusste, dass er auf der „Katharina“ stets einen Platz finden würde. Er warf sich seinen Seesack über die Schulter und stieg über die Gangway hinab auf den Kai. Der junge Seemann brauchte nicht lang zu gehen, denn nicht weit vom Liegeplatz des Handelsschiffes lagen die Kähne der Torfschiffer. Sie fuhren den in den Mooren abgebauten Torf die Lesum hinab in die Hafenstadt an der Weser, wo er als Brennstoff für den Winter diente und in den Herden zum Kochen verfeuert wurde. Schnell war er sich mit einem der Bootsführer einig, ein paar kleine Münzen wechselten den Besitzer und Johannes ging an Bord des flachen Frachtkahns.
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