[Die Gesellschaftskritik] ist eigentlich Weltkritik, Demonstration der Unmöglichkeit, unter den Bedingungen der Realität überhaupt menschlich frei leben zu können. Damit wird jeder Versuch, politisch und sozial zu wirken, sinnlos, weil der den Teufelskreis des Irdischen nicht verläßt. 66
Murau glaubt nicht an eine Aufhebung oder Verbesserung der grauenhaften Verhältnisse, wie sein Gespräch mit dem in Brüssel lebenden Alexander, das im Roman wenige Zeilen vor der Verschenkung Wolfseggs stattfindet, zeigt:
Alexander war wieder von seinen Lebensideen besessen, er wollte den Präsidenten von Chile bitten, alle politischen Häftlinge in Chile, dieser grauenhaftesten aller Diktaturen, freizulassen. Es störte ihn nicht, daß ich sagte, er werde mit seiner Bitte keinen Erfolg haben. (A 649f.)
Wie schwer Wolfsegg mit seiner historischen Schuld auf Murau lastet, belegt, daß er sich für die Annahme durch den "Geistesbruder" Eisenberg bei diesem bedankt. Dennoch verschenkt er Wolfsegg, auch als eine Reverenz an den Tatmenschen Alexander, dem er sich geistig verbunden fühlt, und der sich nicht von dem Skeptizismus und Pessimismus Muraus anstecken läßt, an die Israelitische Kultusgemeinde. 67
Murau und Siebenkäs sind im Musilschen Sinne Möglichkeitsmenschen, Alexander hingegen ist ein Wirklichkeitsmensch 68, weil er Lebensideen hat und nicht von einer Todeskrankheit befallen ist.
Siebenkäs, der sich klar als Jean Paul zu erkennen gibt, fühlt sich zur Schriftstellerei berufen, wird jedoch von seiner Lenette ständig um den Anfang seiner literarischen Unternehmungen gebracht. In einer der komischsten Szenen des Romans versucht der Dichter zu schreiben, seine Gattin hingegen die Wohnung zu putzen:
"Wenns dir tulich ist, Lenette, so mache heute kein sonderliches Getöse – es ist mir beinah hinderlich, wenn ich dasitze und für den Druck arbeite." […] Siebenkäs tat die obige Bitte wahrlich in einer Tölpelminute. Denn nun hatte er sich selber genötigt, unter dem Denken aufzulauern, was Lenette nach dem Empfange des Bittschreibens vernehme. […] Siebenkäs mußte fleißig aufpassen, um ihre Hände oder Füße zu hören; aber es glückte ihm doch, und er vernahm das Meiste. Wenn man nicht schläft, so gibt man auf ein leises Geräusch mehr als auf ein großes acht: jetzt horchte ihr der Schriftsteller überall nach, und sein Ohr und seine Seele liefen, als Schrittzähler an sie angemacht, überall mit ihr herum […]. (Jean Paul 155)
Er "öffnete die Türe seiner Marterkammer" 69und verbittet sich jede noch so leise Bewegung:
Das ist aber eben mein Unglück, daß ichs drinnen nicht hören kann, sondern alles nur denken muß – und der verdammte lange Wichs- und Besengedanke setzte sich an die Stelle der besten anderen Gedanken, die ich hätte zu Papier bringen können! (Jean Paul 158)
Muraus Vorhaben, die Auslöschung zu schreiben, wird "wie so viele Geistesarbeiten, die geschrieben werden müßten, nicht geschrieben" (A 200):
Wir ziehen alle möglichen Gründe, mit einer solchen Arbeit nicht anfangen zu müssen, heran, wir kramen alle nur möglichen Ausreden aus, wir rufen alle möglichen Geister, die alle nur böse Geister sein können, an, um nicht anfangen zu müssen, wo wir anfangen sollten. Das ist die Tragödie dessen, der etwas aufschreiben will, daß er immer wieder die Verhinderer seines Aufschreibens anruft […]. (A 200)
In Beton, dem Roman Bernhards, welcher zeitlich und thematisch der Auslöschung am nächsten steht, wird Jean Pauls mehrseitiges Kabinettstückchen über Lenettes "Getöse" im Siebenkäs expliziert. Der Protagonist Rudolf plant seit "zehn Jahren [...] eine Arbeit über Mendelssohn-Bartholdy" (B 8) zu schreiben, ohne nur zu wissen, "was der erste Satz dieser Arbeit sein wird" (B 9):
Ich stand da und schaute durch die Tür auf den Schreibtisch und fragte mich, wann der Moment da sei, an den Schreibtisch zu treten und mich hinzusetzen und mit der Arbeit anzufangen. Ich horchte, aber ich hörte nichts. (B 23)
Das Problem, bereits beim ersten Satz zu scheitern, hat Murau bislang vor der Niederschrift abgehalten:
Die Schwierigkeit ist ja immer nur, wie einen solchen Bericht anfangen, wo einen tatsächlichen brauchbaren ersten Satz einer solchen Aufschreibung hernehmen, einen solchen allerersten Satz. (A 198)
Als poetologische Reflexion auf die vorliegende Auslöschung bezogen, veranschaulicht der erste Satz, daß es dem Verfasser Murau eben doch gelungen ist, bereits in diesem Anfang entscheidende Momente des Romans in einen Satz zu fassen: Begeisterung für seinen Schüler Gambetti; positives Rombild vs. negatives Österreich-Wolfseggbild; Telegramm mit Todesnachricht der Eltern und des Brudes.
Das Verfassen der Schrift ist ein wesentliches, "werkkonstitutives Prinzip im Œuvre Thomas Bernhards" 70. Bereits Jean Paul verleiht dieser Künstlerproblematik im Siebenkäs auf die oben dargestellte ironisch, humorvolle Art Ausdruck. Im Werk Bernhards wird das Problem allerdings radikalisiert, so daß die Lächerlichkeit eines Rudolf aus Beton eine tiefe Tragik besitzt: das "Lachen über die Lächerlichkeit des Lachens und über die Verzweiflung" 71. Das Scheitern der Schriften mag in Siebenkäs, Beton und Auslöschung als Koketterie erscheinen, denn alle Werke sind zustandegekommen, aber wenn Muraus Vollendung der Auslöschung mit seinem Tod zusammenfällt, bleibt dem Leser spätestens hier das Lachen im Halse stecken.
Die Reflexion über das eigene Werk ist, trotz seines inflationären Gebrauchs in der sogenannten »postmodernen« Literatur, eine der existentiellen Problematiken des Künstlers. Im Siebenkäs findet sich eine der ersten Ausprägungen dieses autoreflektiven Künstler-Diskurses, der die Modernität Jean Pauls unterstreicht. Ludwig Börne wies in seiner »Denkrede auf Jean Paul« im Jahre 1825 prophetisch auf dessen Antizipation künftiger Themen hin:
Er aber steht geduldig an der Pforte des zwanzigsten Jahrhunderts und wartet lächelnd, bis sein schleichend Volk ihm nachkomme. 72
In seiner "Vorrede zum zweiten, dritten und vierten Bändchen" empfiehlt Jean Paul dem Leser, die wenigen Kapitel des ersten Bändchens zu rekapitulieren, "und in der Tat ist das Buch, das nicht wert ist, zweimal gelesen zu werden, auch nicht würdig, daß mans einmal lieset" (Jean Paul 151).
Murau sagt zu Gambetti, daß es Schriftsteller gäbe,
[...] die begeistern den Leser, wenn er sie zum zweiten Mal liest, in noch viel höherem Maße als das erste Mal [...]. Nicht viele Schriftsteller werden beim zweiten Lesen wichtiger, großartiger, die meisten lesen wir zum zweiten Mal und schämen uns dabei, daß wir sie überhaupt einmal gelesen haben [...]. (A 139f.)
Murau entwickelt aus dem Ratschlag Jean Pauls auf dessen eigenes Werk bezogen, gleich eine Methode:
Die Methode halte ich nicht für die schlechteste, die Schriftsteller, die wir einmal gelesen haben, ein zweites Mal zu lesen, denn dann sind sie entweder die noch viel größeren, die noch viel wichtigeren, oder nicht mehr der Rede wert. Auf diese Weise tragen wir auch nicht lebenslänglich einen ungeheuren Ballast von Literatur in unserem Kopf, der diesen unseren Kopf schließlich krank macht, todkrank. (A 140)
Muraus Kopf ist trotzdem von einer Todeskrankheit durch den Ballast der Literatur befallen, wovon die Auslöschung beredt Zeugnis ablegt. Sein Auswahlverfahren durch "Zweitlektüre" kann ihn auch nicht mehr retten, wie der scheiternde Versuch, seine geliebten Bücher nochmals zu lesen (A 586ff.), illustriert.
Selbst wenn es nicht einmal ein Ding oder ein Zeichen änderte, selbst dann trägt die reine Wiederholung ein unbegrenztes Pervertierungs- und Subversionsvermögen in sich. (Jaçques Derrida) 73
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