Die Projektion seiner anarchischen Wunschvorstellungen auf Gambetti läßt diesen mehr als eine illuminierte Gestalt auf Muraus Leinwand, als eine real abgebildete Figur erscheinen. Der anfangs konstatierte " Idealzustand " enthüllt sich letztendlich auch für Murau – der Leser hat diese Farce schon längst durchschaut – als unrealisierbarer Wunschzustand:
Wir klammern uns an einen Menschen wie Gambetti, den ich möglicherweise schon zerstört habe […] und sind auch an solchen Charakteren verloren, dachte ich an der offenen Gruft. (A 645)
Die Perspektive am Schluß des Siebenkäs und der Auslöschung weist in dieselbe Richtung: Leibgebers Identität ist ausgelöscht und Siebenkäs lebt mit dem Namen seines Freundes fort, um dessen Stelle in Vaduz anzutreten; Muraus Existenz ist ausgelöscht und Gambetti lebt mit dem geistigen Erbe seines Lehrers fort, um dessen Werk zu vollenden.
In beiden Werken büßt die Doppelgänger-Projektion moralische Substanz ein: "an der offenen Gruft" der Eltern wird Murau klar, daß er Gambetti bereits zerstört hat, und an dem "neue[n], lockere[n] Grab" (Jean Paul 567) der im Kindbett gestorbenen Lenette wird Siebenkäs bewußt, daß die Übergipfelung der Doppelgänger-Identifikation bis zur inszenierten Auslöschung seiner Selbst und der Identität Leibgebers zumindest ein reales Opfer forderte.
Jean Paul verfaßte bereits 1799 die »Clavis Fichtiana«, eine polemische Kritik an Fichte, die er in den »Komischen Anhang« des Titan (1800-1803) einfügt. Der Protagonist Schoppe tritt als Leibgeber auf (Siebenkäs nach seinem Scheintod und dem Namenstausch) 81und wird über Fichtes Wissenschaftslehre verrückt.
Er war nämlich einer der größten Dichter in Kuhschnappel. wiewohl er bisher mehr seine Verse bekannt gemacht, als daß diese ihn bekannt gemacht hätten. (Jean Paul 104)
Im Siebenkäs finden sich mehrmals Nennungen von Werken Jean Pauls. In der Vorrede zum zweiten, dritten und vierten Bändchen des Siebenkäs kündigt der "Verfasser des Hesperus" (Jean Paul 146), der natürlich Jean Paul selbst ist, den nächsten Roman, Der Titan, an. Dieser Vorredner unterzeichnet mit Jean Paul Fr. Richter, also dem bürgerlichen Namen des Schriftstellers 82. Eine kleine Notiz darunter klärt den Leser auf, daß "obiger Robinsonscher Freitag und Namensvetter" sein Freund sei, dessen "Vorrede [...] ordentlich beschlossen werden" (Jean Paul 151) muß. Jean Paul maskiert sich erst gar nicht mehr, sondern tritt als fiktive Figur in seinem eigenen Roman auf. Diese autoreflektiven Diskurse des Erzählers findet der Leser wiederholt im Siebenkäs, z.B.:
Es ist freilich mein Vorteil nicht, daß ich damals von allem nichts erfuhr, was nun halb Europa erfährt durch mich – ich war damals noch jünger und saß einsam zu Hause als Kopfsalat, willens, mich zu einem Kopf zu schließen, welches Schließen, sowohl beim Menschen als beim Salat, durch nichts mehr gehindert wird als durch nachbarliches Berühren des Nebensalats. (Jean Paul 537)
In der Auslöschung geschieht das gleiche, jedoch durch doppelte Brechung, nämlich seitens der fiktiven Autoren-Gestalt Murau und seitens des unbekannten Herausgebers, wenn Gambetti der Roman " Amras von Thomas Bernhard" (A 7f.) zur Lektüre aufgetragen wird.
Zudem reflektiert der fiktive Autor Murau ständig über die Niederschrift der Auslöschung innerhalb der Auslöschung: Überlegungen, wie Wolfsegg auszulöschen (A 199f.), "eine Schrift zu verfassen mit dem Titel: Die spöttischen Gesichter meiner Schwestern " (A 245), meine eigene "Selbstzersetzung und Selbstauslöschung" (A 296) niederzuschreiben, eine Schrift, "mit Die Mütter überschrieben" (A 299), zu veröffentlichen, "in der von mir geplanten Auslöschung [...] über den Schermaier [zu] schreiben" (A 457), " die Auslöschung [...] wird mich ein Jahr in Anspruch nehmen" (A 542), "halten wir uns ja ab und zu für eine solche Geistesarbeit befähigt [...] wie eine solche Auslöschung " (A 613), "mich zu schonen, [...] vielleicht noch diese Auslöschung [...] zu schreiben" (A 621), durchziehen den Roman. Der Plan ist verwirklicht worden, denn alle Punkte hat Murau auf seiner Auslöschungsliste abgehakt.
Siebenkäs ist mit der Niederschrift der Auswahl aus des Teufels Papieren beschäftigt, einer Satire Jean Pauls aus dem Jahre 1789. Er räsoniert über noch zu schreibende Werke (Titan) und über schon veröffentlichte Werke (Hesperus) Jean Pauls und streut Repliken zu der Kritik des Siebenkäs selbst ein 83, was dadurch ermöglicht wurde, daß Jean Paul die erste Ausgabe von 1796/97 durch eine komplett überarbeitete zweite Fassung im Jahre 1817 ersetzte, der ein vierter Band hinzugefügt wurde. Die divergierenden Entstehungs- und Erscheinungsdaten der Auslöschung eröffneten auch Bernhard die Möglichkeit, in den im wesentlichen 1981/82 geschriebenen Roman noch kurz vor der Veröffentlichung im Jahre 1986 aktuelle politische Entwicklungen und autoreflektive Diskurse einzuflechten.
Es ist nicht gut, zu frei zu sein.
Es ist nicht gut, alles Notwendige zu haben.
(Pascal Pensées 57/379)
Eine weitere Analogie zum Siebenkäs besteht in der beiderseitigen Darstellung einer Schriftstellerexistenz und den daraus resultierenden Nöten. Eines der Hauptprobleme für Siebenkäs ist seine bedrohliche finanzielle Lage.
Jean Paul erlebte nicht nur die Armut seiner familiären Herkunft, sondern mußte auch den Leidensweg eines Hauslehrers einschlagen, 84bevor er von den Einkünften seiner Romane leben konnte. So wie am Ende des 20. Jahrhunderts eine Schwemme von Studenten vor der Erwerbslosigkeit steht, fehlte auch den Absolventen der Hochschulen in Deutschland um 1800 die Aussicht auf eine sichere Anstellung. Der Ausweg bestand oftmals in der Annahme einer Hofmeisterstelle, um wenigstens existentielle Bedürfnisse befriedigen zu können. So ist die Schilderung eines verarmten Armenadvokaten, der sich zu einem brotlosen Gewerbe wie der Schriftstellerei hingezogen fühlt, eine biographische Fiktionalisierung des Autors Jean Paul.
Bernhard gestaltet diese Problematik ebenso zeitgemäß und autobiographisch wie Jean Paul: auch Murau verdient sich als Hofmeister, wobei ihn nicht die existentielle Not dazu zwingt, denn seine materielle Unabhängigkeit, die zweifelsohne Reichtum ist, enthebt ihn der alltäglichen Notwendigkeit, für seinen Lebensunterhalt sorgen zu müssen. Sein hoch dotierter Unterricht als Deutschlehrer Gambettis, dessen Eltern sich in dem Glauben wägen, "eine großzügige Mäzenatengeste" (A 210) zu zeigen, ist nicht von der Not diktiert, Geld zu verdienen, das er "selbst im Überfluß" (A 210) hat und "sozusagen pro forma von ihm annehme" (A 484).
Die freizügige Verschenkung des Erbes pointiert die Unterschiedlichkeit der beiden Protagonisten. Siebenkäs’ Hoffnung, seiner desolaten Wirtschaftslage zu entrinnen, ruht auf dem ihm rechtmäßig zustehenden Erbe, das ihm wegen des ersten Namenstausches verwehrt wird. So wie dieser mit Bittschreiben seine Existenz materiell abzusichern versucht, verschenkt jener Wolfsegg "und alles Dazugehörende" (A 650), denn Murau kann ein Zeichen setzen, weil der pekuniäre Aspekt für ihn zweitrangig ist.
Die fast zwei Jahrhunderte, die zwischen dem Erscheinen des Siebenkäs und der Auslöschung liegen, haben einerseits die materielle Not der in Deutschland/Österreich lebenden Menschen gemildert, andererseits deren Leben komplexer gestaltet und die Existenzmöglichkeiten sinnentleerter werden lassen. Daher statuiert Bernhard – sein eigenes, finanziell unabhängiges Leben wird da als Vorbild gedient haben – an Murau das Beispiel eines Menschen, der, ohne äußere Zwänge, sich ausschließlich mit seiner inneren Existenz auseinandersetzen muß. Diese Freiheit, die den formalen Rahmen für das Leben eines «Geistesmenschen« gewährt, erdrückt ihn.
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