Joachim Hoell
Mythenreiche Vorstellungswelt und ererbter Alptraum
Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard
2014
Ingeborg Bachmann bekennt, daß sie durch die »mythenreiche Vorstellungswelt« ihrer ›Heimat‹ beherrscht sei, Thomas Bernhard bezeichnet diese ›Heimat‹ als »ererbten Alptraum«. Beide Autoren befassen sich in ihrem Werk mit zwei Mythen, die das österreichische Bewußtsein der Nachkriegszeit bestimmen: dem Mythos des Habsburgischen und dem Mythos vom Opfer Hitlerdeutschlands. Diese Hinwendung zu Österreich findet literarisch statt, denn ihre bevorzugten Autoren stammen aus Österreich und teilen mit ihnen die große geschichtliche Vergangenheit des Habsburger Reiches, aber auch die Phase des Nationalsozialismus.
Mit der literarischen Bearbeitung von Joseph Roths ›Trotta‹-Romanen und Jean Amérys ›Bewältigungsversuchen‹ in Bachmanns Simultan sowie Hans Leberts Roman Die Wolfshaut in Bernhards Frost beziehen sich beide auf zentrale Texte für ein österreichisches, aber auch für ein geschichtliches Bewußtsein.
Die Originalausgabe dieses Buchs erschien 2000 in der VanBremem Verlagsbuchhandlung in Berlin. Für diese Ausgabe bei epubli wurde das Buch geringfügig überarbeitet und um ein aktives Inhaltsverzeichnis erweitert.
Pressestimme:
… mit dem detaillierten Nachweis, daß Bernhards literarische Auseinandersetzung mit seiner österr. Heimat und ihrer Geschichte (bis zu 'Auslöschung') als motivische und narrative Montage bzw. Demontage von Leberts 'Wolfshaut' angelegt ist, hat der Verf. einen wichtigen Beitrag zur Bernhard-Forschung und zur Erforschung zentraler Paradigmen der österr. Nachkriegsliteratur vorgelegt.
Irmela von der Lühe, Germanistik, Bd. 42, 2001
Joachim Hoell, geboren 1966, lebt als Autor in Berlin. Nach Studium und Promotion in Germanistik und Lateinamerikanistik zahlreiche Artikel und Bücher, u.a. Biografien über Thomas Bernhard (dtv 2000, Hörbuch gelesen von Hermann Beil, Tacheles 2006), Ingeborg Bachmann (dtv 2001, Hörbuch gelesen von Sophie Rois, Random House Audio 2006) und Oskar Lafontaine (Lehrach 2004), Mitherausgeber der Gesammelten Schriften von Philipp Mainländer (Olms 1996-1999) und zahlreiche Romanbearbeitungen fürs Hörbuch wie Hörbuchregie, von Autoren wie Louis Begley, Harry Belafonte, T.C. Boyle, Charles Dickens, John Grisham, Richard Ford, Robert Harris, Stephen Hawking, Terézia Mora, Melinda Nadj Abonji, Hanns-Josef Ortheil, Rüdiger Safranski, Frank Schirrmacher, Richard Sennett und Martin Suter. Lehraufträge zu moderner Literatur und Hörbuch an zahlreichen Universitäten. Konzeption und Moderation literarisch-musikalischer Programme, u.a. im Residenzschloss Ludwigsburg.
… mehr auf www.joachimhoell.de
Bei epubli von Joachim Hoell erhältlich:
Der literarische Realitätenvermittler. Die Liegenschaften in Thomas Bernhards Roman Auslöschung. Berlin 1995, 2. Auflage epubli Berlin 2014
Mythenreiche Vorstellungswelt und ererbter Alptraum. Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard. Berlin 2000, 2. Auflage 2001, 3. Auflage epubli Berlin 2014
Thomas Bernhard. Ein Portrait. München 2000, 2. Auflage 2003, 3. Auflage epubli Berlin 2014
Ingeborg Bachmann. Ein Portrait. München 2001, 2. Auflage 2004, 3. Auflage epubli Berlin 2014
Provokation und Politik. Oskar Lafontaine. Braunschweig 2004, 2. Auflage epubli Berlin 2014
Mythenreiche Vorstellungswelt und ererbter Alptraum.
Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard
© 2014 Joachim Hoell
published by: epubli GmbH
Berlin www.epubli.de
ISBN 978-3-8442-8539-0
Die Wichtigkeit von Traditionen. Es genügt nicht, irgendwo nicht hinzugehören, wir sollten auch möglichst genau wissen, wohin wir nicht gehören.
Imre Kertész
Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard befassen sich in ihrem Werk mit zwei Mythen, die das österreichische Bewußtsein der Nachkriegszeit bestimmen: dem Mythos des Habsburgischen und dem Mythos vom Opfer Hitlerdeutschlands. Bachmann bekennt in dem frühen Text Biographisches , daß sie noch immer durch die »mythenreiche Vorstellungswelt« (Bachmann 4, 302) ihrer ›Heimat‹ beherrscht sei, Bernhard bezeichnet diese ›Heimat‹ in Auslöschung als »ererbten Alptraum« (Bernhard, A 482). Die aggressive Abrechnung Bernhards mit der auf dem Opfermythos beharrenden österreichischen Gesellschaft und die liebevolle Hinwendung Bachmanns zu einer untergegangenen Welt sind die zwei Pole ihrer literarischen Auseinandersetzung mit Österreich. Umgekehrt wendet sich Bernhard in seinem Œuvre in die Habsburger Zeit zurück, während Bachmann die nationalsozialistische Zeit und ihre Verdrängung ins Zentrum ihrer Arbeit rückt.
Das Spannungsverhältnis zu der gemeinsamen ›Heimat‹ Österreich illustrieren in Bernhards Auslöschung die Figuren Franz-Josef Murau und Maria, hinter denen sich Bernhard und Bachmann verbergen. Das Leben der beiden Exilanten in Rom wie die Kunst sind Fluchtpunkte, die die Gegenwelt zu Österreich darstellen. Die künstlerischen Anstrengungen des Literaten und der Dichterin wenden sich zurück in die ›Heimat‹. Murau versucht in der Schrift Auslöschung seinen ›Herkunftskomplex‹ in Gestalt der auf ihm lastenden österreichischen Nachkriegsgeschichte zu überwinden, Marias ›sogenanntes böhmisches Gedicht‹ – ein Hinweis auf Bachmanns Böhmen liegt am Meer – zeigt die Verbundenheit zur ›Heimat‹ in den Grenzen des Habsburger Reiches. Die Gespräche der beiden Figuren und ihre Biographien sind geschichtlich aufgeladen: Maria sucht in dem Wort ›Heimat‹ Zuflucht, Murau quittiert diese Sehnsucht mit einem Lachen.
Der Diskurs über ›Heimat‹ in der imaginierten Begegnung wirft die Frage nach dem Verhältnis der Autoren zu Österreich auf. Beide setzen sich in ihrem Werk intensiv mit der Nachkriegszeit in Österreich auseinander. Als femme des lettres und homme des lettres leisten sie diese Arbeit literarisch, in der Kunst und durch die Kunst. In jedem Text Bachmanns und Bernhards schimmert ein Palimpsest anderer Texte durch, die explizit oder implizit genannt werden. Ihre Hinwendung zu Österreich findet literarisch statt, denn ihre bevorzugten Autoren stammen aus Österreich und teilen mit ihnen die große geschichtliche Vergangenheit des Habsburger Reiches, aber auch die Phase des Nationalsozialismus. Mit der literarischen Bearbeitung von Joseph Roths ›Trotta‹-Romanen und Jean Amérys ›Bewältigungsversuchen‹ in Simultan sowie Hans Leberts Roman Die Wolfshaut in Frost beziehen sich Bachmann und Bernhard auf zentrale Texte für ein österreichisches, aber auch für ein geschichtliches Bewußtsein.
Bernhards Romandebüt Frost aus dem Jahre 1963 schlägt die Klaviatur aus Themen, Motiven und Sprache an, die bestimmend bleiben sollte in seinem Prosawerk. Der Roman wird der ›Antiheimatliteratur‹ zugerechnet, der die Zerstörung der zwei österreichischen Mythen auf die Fahne geschrieben wird. Das Genre begründet Leberts Wolfshaut aus dem Jahre 1960, in dem erstmals die österreichische Provinz und ihre postfaschistische Bevölkerung beschrieben werden. Obwohl Bernhard die Wolfshaut nirgends erwähnt hat, lassen sich mit besonderem Blick auf beide Arbeiten eine Fülle von Parallelen aufzeigen, die deutlich machen, daß Bernhard in Frost Leberts Roman thematisch und motivisch fortschreibt. Im kurz danach entstandenen Fragment Der Italiener greift er den in Leberts Wolfshaut im Zentrum stehenden Mordstoff auf und gestaltet den ersten Versuch einer literarischen Vergangenheitsbewältigung. Der Italiener enthält bereits das Wolfsegg-Sujet, das über die Verfilmung bis hin zur Auslöschung führt. Die in Leberts Roman gestaltete Anti-Österreich-Thematik markiert in Bernhards Bearbeitung den Beginn seines Prosaschaffens und führt auf sein Hauptwerk Auslöschung zu.
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