So verweist auch die Biographie von Muraus Freundin Maria unzweideutig auf das Vorbild Bachmann. Sie kommt aus Klagenfurt, »der kleinen südösterreichischen lächerlichen Provinzstadt, in der Musil geboren worden ist«, dann sei es ihr gelungen, »nach Rom auszubrechen« (Bernhard, A 232f.), wo sie nahe der Via Condotti wohnt. Ferner finden das Gedicht Böhmen liegt am Meer, der Bachmannsche Opernenthusiasmus, ihre Dissertation über Heidegger und die Übersetzungen, die sie von Ungaretti-Gedichten gemacht hat, Erwähnung. Ingeborg Bachmann ist als Maria die einzige Frau, mit welcher Murau einen Kontakt pflegt, darüber hinaus wird ihr Werk von Murau reflektiert und des weiteren setzt sich Bernhard mit ihrer Ästhetik auseinander.
Hinter den beiden Romanfiguren verbergen sich, wenn auch notwendigerweise gebrochen, die Autoren Bachmann und Bernhard. Tatsächlich sind die beiden Österreicher nie in Rom zusammengetroffen, dafür in Wien. Bei dem Festbankett in der Hofburg saß Bernhard »am Prominententisch in nächster Nähe des Staatsoberhauptes, neben Ingeborg Bachmann, die sich in einem Pagenkostüm, mit schwarzen Kniehosen und Cherubino-Wams, eingefunden hatte, und Christine Lavant, die in ihrem üblichen Bauerndrillich mit Kopftuch gekommen war.« 8Dieses »opernhaften Aufzuges« sollte sich Bernhard in der Auslöschung erinnern: Maria tritt in einem (Alp-)Traum Muraus in einem Hochgebirgstal auf, bekleidet in »schwarzer Samthose […], die mit großen Seidenmaschen unterhalb ihrer Knie befestigt war, dazu eine kardinalrote Jacke mit türkisfarbenem Kragen« (Bernhard, A 215). Der Anlaß dieses Treffens mit Murau und zwei römischen Freunden ist der Vergleich ihren eigenen Gedichte mit der Philosophie Schopenhauers. Dieses Traum-Unterfangen gestaltet sich jedoch zum Horrortrip, denn der Wirt des Gasthauses entreißt ihnen die Bücher und beschimpft sie als Gesindel, das ausgerottet gehöre; im dichten Schneetreiben flüchten sie aus dem Tal, und der literarisch-philosophische Vergleich scheitert. Muraus Traum zeigt Parallelen zum Traumkapitel in Malina, indem die Figurenkonstellation von weiblichem Ich, dem Fremden in seinem »schwarzen siderischen Mantel« (Bachmann 3, 194) und der destruktiven Vater-Figur an Maria, Eisenberg, mit seinem »langen schwarzen Mantel« (Bernhard, A 226), und den destruktiven Wirt in Auslöschung erinnert. 9Bernhard setzt sich in dem wichtigsten Traum seines Œuvres mit dem zentralen Traumkapitel in Bachmanns Werk auseinander, womit Muraus, die Bachmann-Legende der ›gefallenen Lyrikerin‹ fortspinnende Bemerkung durch den Autor Bernhard in Frage gestellt wird: »Prosa Schreiben sei übrigens immer ihr Traum gewesen, alle ihre Versuche in dieser Richtung aber seien gescheitert, sie hat immer gleich aufgegeben und wenn nicht, eingesehen, daß sie kein Kunstwerk geschaffen, sondern nur eine staunenswerte Arbeit zustande gebracht habe, so sie selbst.« (Bernhard, A 230)
Die Freundschaft zwischen den Figuren ist vor allem literarischer Natur, Murau bespricht mit Maria, »der Unbestechlichen«, das Projekt der ›Auslöschung‹, und der Titel »ist von Maria, die mich ja auch einmal einen Auslöscher genannt hat. Ich bin ihr Auslöscher , hat sie behauptet. Und das, was ich zu Papier bringe, ist das Ausgelöschte « (Bernhard, A 542). Die an Kafka erinnernde Verbrennung der Manuskripte »in ihrem Ofen« – gemeinsam mit Maria – führt zum »Höhepunkt«, berichtet er. Ihre Titulierung Muraus als Auslöscher hat also seine Schrift initiiert, Maria hat seine prosaische Vernichtungsmaschine in Gang gesetzt. Sie wird das Manuskript »mit mir durchsprechen, es zerlegen, daraufhin werde ich es wegwerfen, wie alles von mir, was ich ihr jemals zum Lesen gegeben habe« (Bernhard, A 541). Maria ist seine schärfste Kritikerin, womit Bachmanns einzige Auseinandersetzung mit Bernhards Werk evoziert wird. In dem Versuch über Bernhard attestiert sie dessen Prosa »eine Radikalität, die im Denken liegt und bis zum Äußersten geht« (Bachmann 4, 361) und lobt an Bernhard »die gläserne Ruhe im Umgang mit einer zerbröckelnden Welt, […] das Zwingende, das Unausweichliche und die Härte […] seiner Bücher über die letzten Dinge« (Bachmann 4, 362f.). Bernhard hat die kurze Lobeshymne gut studiert beim Entwurf der Auslöschung .
Diese kritische Haltung gegenüber dem Schreiben, den (Un)Möglichkeiten von Literatur und Sprache, führt geradewegs in die zentralen Themenkomplexe von Bachmann und Bernhard. Mit Rückbezug auf Hofmannsthals Chandos-Brief formuliert Bachmann 1959 in ihrer ersten Frankfurter Vorlesung zur Poetik , daß »das Vertrauensverhältnis zwischen Ich und Sprache und Ding schwer erschüttert« (Bachmann 4, 188) sei. Dieses Verstummen des Lord Chandos findet sich bei den unzähligen Studienschreibern in Bernhards Werk wieder, wie auch Bachmanns Figuren von den »Stürze[n] ins Schweigen« (Bachmann 4, 188) bedroht sind. Diese Skepsis gehe über Hofmannsthals erstes Dokument einer profunden Sprach-Verzweiflung hinaus, denn die Fragwürdigkeit der dichterischen Existenz stehe nun der Unsicherheit der gesamten Verhältnisse gegenüber, so Bachmann. Die geschichtliche Situation kann nicht außer acht gelassen werden: Kunst muß gesellschaftskritisch sein.
Ein zentraler Gedanke des unvollendet gebliebenen Todesarten -Zyklus ist das Aufdecken des Gemetzels »innerhalb des Erlaubten und der Sitten […], denn die wirklichen Schauplätze, die inwendigen« (Bachmann 3, 342) werden von den äußeren überdeckt. Diese Verbrechen in der Gesellschaft gilt es aufzudecken, wie der 1971 veröffentlichte Roman Malina zeigt. In der Auslöschung wird deutlich, wie wichtig für Bernhard die gesellschaftspolitische Komponente im Vergleich zum Frühwerk geworden ist. Mißstände werden nun benannt und offen dargelegt, die in den sechziger Jahren lediglich als Metaphern für ein finsteres Weltbild dienten. Der Roman ist eine konsequente Abrechnung mit politischem Unrecht, vor allem der unbewältigten Nazivergangenheit in Österreich. Es ist das politisch zornigste Prosastück des Moralisten Bernhard – eine Kriegserklärung an alle Ewiggestrigen.
Das wütende Auslöschen Muraus ist seine Reaktion auf die Auslöschungsmechanismen der Gesellschaft. Obwohl die totale Auslöschung auch den Protagonisten ereilt, haben 651 Seiten Auslöschung Bestand. Dies ist die Pointe Bernhards, denn der Roman Auslöschung bleibt zurück und bewahrt das Ausgelöschte vor dem Vergessen. Das Reale muß ausgelöscht werden, das Kunstwerk bleibt bestehen. Die Aufforderung zur Erinnerung hat zum Ziel, Geschichte zu bewältigen. Dazu bedarf es unzerstörbarer Gegenkräfte, nämlich der Werke Großer Geister und Alter Meister . All’ die genannten literarischen Werke von höchstem Rang sensibilisieren und schärfen das Kulturgedächtnis des Lesers. Die Utopie der Kunst wird zur Kunst der Utopie.
Diese Utopie in Auslöschung veranschaulicht der Vergleich zu Böhmen liegt am Meer . Murau bezeichnet es wiederholt als »das schönste und beste Gedicht, das jemals eine Dichterin in unserer Sprache geschrieben hat« (Bernhard, A 511). Seit Shakespeares Wintermärchen befindet sich im Reich der Kunst und der Phantasie Böhmen am Meer – als Wunsch einer märchenhaften Erfüllung des Unmöglichen. Diese Hoffnung wird im Gedicht jedoch erst – aus dem Moment der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit heraus – durch das Zugrundegehen eingelöst: »Ich will nichts mehr für mich. Ich will zugrunde gehen./ Zugrund – das heißt zum Meer, dort find ich Böhmen wieder./ Zugrund gerichtet, wach ich ruhig auf./ Von Grund auf weiß ich jetzt, und ich bin unverloren.« (Bachmann 1, 167f.) Die geistige Heimkehr in das Land der Hoffnung, in das von Shakespeare »ans Meer begnadigte« Böhmen, ist erst durch die willentliche Selbstzerstörung des Ich möglich. Die Einsicht in die zerstörerischen Strukturen der Gesellschaft, »von Grund auf«, ermöglicht den Neuanfang als Aufbruch in eine neue Zeit.
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