In einem nur teilweise veröffentlichten Kommentar aus dem Jahre 1973 bezeichnet Bachmann es als das Gedicht ihrer Heimkehr, »nicht einer geographischen, sondern einer geistigen Heimkehr.« 10Hans Höller zeigt in der Edition des Gedichts, daß die »Varianten des Entstehungsprozesses als literarische Arbeit an ihrem Begriff von ›Heimat‹« 11verstanden werden können. Mit der im Böhmen-Sujet enthaltenen Mitteleuropa-Utopie greift die Dichterin das ihr biographisch vertraute Angrenzen an viele Sprachen und Länder auf. Die im Grenzbereich Kärntens zu Slowenien und Italien aufgewachsene Bachmann hat wiederholt die Idee vom ›Haus Österreich‹ in ihrem Werk formuliert, denn dieser Ausdruck »hat mir besser erklärt, was mich bindet, als alle Ausdrücke, die man mir anzubieten hatte. Ich muß gelebt haben in diesem Haus zu verschiedenen Zeiten, denn ich erinnre mich sofort, in den Gassen von Prag und im Hafen von Triest, ich träume auf böhmisch, auf windisch, auf bosnisch, ich war immer zu Hause in diesem Haus, […] ohne die geringste Lust, es noch einmal zu bewohnen, in seinen Besitz zu gelangen, einen Anspruch zu erheben« (Bachmann 3, 99). Diese Aussage des Ich in Malina veranschaulicht den Charakter von geistiger ›Heimat‹ als Gegensatz zu geographischer in ihrem Werk. 12In der Interpretation der Fortschreibung von Roths ›Trotta-Romanen in Simultan wird diese kritisch-distanzierte Haltung gegenüber ›Heimat‹ verdeutlicht werden.
Murau in Auslöschung quittiert jedoch gerade an Maria deren Sehnsucht nach ›Heimat‹ mit einem Lachen, weil »Maria immer wieder in diesem Wort Zuflucht suchte, sie sagte auch immer von dem Wort Heimat, es sei das verführerischste.« (Bernhard, A 235) Ob diese Ablehnung sich auf die geistige ›Heimat‹ im Gedicht bezieht, die als idealisierte Habsburger-Romantik verstanden werden könnte, auf das ähnlich utopisch aufgeladene ›Ungargassenland‹ in Malina, auf die in Drei Wege zum See unternommene Reise an den Ursprungsort 13oder auf andere Texte, verrät diese Passage nicht. Im Kontext dieser Erinnerung an Maria zählt Murau die Stationen in Bachmanns Biographie auf, die sie von Klagenfurt über Wien und Paris nach Rom führten, und daß nun der – allerdings unschlüssige – Wunsch der Remigration nach Wien bestehe, »das ihre Heimat sei« (Bernhard, A 235). Diese geographische Heimkehr Marias wird in Bernhards Roman jedoch nur als Überlegung angedeutet, denn die Dichterin Maria lebt weiterhin in Rom und nicht in Österreich. 14Da Erwägungen Bachmanns, nach Österreich zurückzukehren, bekannt sind – wie auch der geplante Hauskauf in der Nähe von Bernhards Obernathaler Refugium verdeutlicht –, kann dieser Diskurs sich auch auf persönliche Gespräche Bernhards mit Bachmann beziehen.
Die Bewegung des Gedichtes, das eine Dialektik von Auslöschung und Utopie beschreibt, zeigt deutliche strukturale Parallelen zu Bernhards Auslöschung. Zunächst erstellt Murau das definitive österreichische Handbuch der Auslöschung: Städte, Landschaft, Menschen, Leben – alles fällt den Auslöschern zum Opfer. Der Grundgedanke dieser Schreckensliste ist, die »Welt zu studieren und sie in diesem Studium nach und nach aufzuschlüsseln und aufzulösen« (Bernhard, A 231). Dieses Zersetzen hat allerdings die »Struktur des Selbstmordes« 15, wie Roland Barthes bemerkt, denn der Ort des Zersetzens kann nur im Zentrum liegen, aus dem man die Auflösung begleitet. Murau betreibt daher wissentlich auch seine »Selbstzersetzung und Selbstauslöschung« (Bernhard, A 296): Er geht zu den Gründen und geht daran zugrunde. Die Zerstörung der alten Ordnung bedeutet in beiden Texten zuerst die zergliedernde Analyse und anschließend die Selbstzersetzung, denn darauf kann erst etwas Neues errichtet werden: »Nach und nach müssen wir alles ablehnen, […] um ganz einfach an der allgemeinen Vernichtung, die wir im Auge haben, mitzuwirken, das Alte aufzulösen, um es am Ende ganz und gar auslöschen zu können für das Neue« (Bernhard, A 211). Dieses Neue kann Murau nicht klar bestimmen, »aber daß es sein muß, wissen wir« (Bernhard, A 212), und auch Bachmann meint, »es wird nicht kommen, und trotzdem glaube ich daran« (Bachmann, GuI 145). Beide haben keine konkrete Vorstellung einer anderen Welt, »Zerstören sei Schöpfung« (Bernhard, Er 118f.), denn im Anfang war die Anarchie.
Literarisch wird ›das Neue‹ hingegen konkretisiert. Bachmann sah ihre Frage, wie wohl das Neue aussehen mag, bereits 1969 in Bernhards Prosa beantwortet: »Hier ist das Neue.« (Bachmann 4, 363) Der erste Schritt dorthin führt wiederum über die Auslöschung. Bernhard bezeichnete sich als »Geschichtenzerstörer« (Bernhard, DT 83), und auch Bachmann leistet eine »destruktiv-produktive Arbeit am Vorgefundenen […], die erzählt und im Erzählen die Strukturen des Erzählens zerstört« 16. So wie die äußeren Gegebenheiten erst einmal erfaßt werden müssen, um neue Wege beschreiten zu können, muß auch das literarische Kunstwerk im Prozeß der Niederschrift überprüft werden. In Böhmen liegt am Meer reflektiert das Ich über das Gedicht – »grenzt hier ein Wort an mich, so laß ich’s grenzen« – und in Auslöschung räsoniert Murau unzählige Male über den zu schreibenden Bericht. Beide stöbern durch die ständige Reflexion von Sprache und Schreiben, ohne die »ein Drittes« (Bachmann 4, 186) nicht möglich ist, eine neue Ästhetik zwischen littérature engagée und littérature pure auf. Die Fürchterlichkeit ihrer Umwelt fordert die ständige Kritik und verbietet das Versteck im Elfenbeinturm. Beide bewahrten dabei konsequent ihre Unabhängigkeit und ließen sich niemals von einer Partei, von einer Institution oder gar vom Staat vereinnahmen. Das kontinuierliche Kreisen um das Verhältnis von Sprache und Ordnung blieb bestimmend für beider Werk. Bachmann zerlegt auch die patriarchalischen Macht- und Denkstrukturen und gilt als eine der Ikonen weiblicher Schreibweise, Bernhard entblößt in seinen scheiternden Geistespatriarchen ebenso Strukturen männlichen Allmachtdenkens.
Die Hoffnung in beiden Texten gründet letztlich auf der Kunst. In Böhmen liegt am Meer ist es Shakespeare und »die Komödien, die lachen machen/ Und die zum Weinen sind.« (Bachmann 1, 167) In Auslöschung sind es die »literarischen Realitäten«, die an die Stelle tatsächlicher Realitäten treten; wie zum Beispiel Bachmanns Gedicht. Der Sonderweg von Bachmann und Bernhard besteht in der Verbindung von offenem Einmischen und idealistischem l’art pour l’art. Damit räumten sie der Literatur einen unabhängigen, erhöhten Platz ein, von welchem sie der Welt eindringliche und quälende Reize zu geben vermögen und gleichzeitig ein utopisches Reich der Kunst gründen. Der Begriff der literarischen Realitäten – zu denen Bachmanns Böhmen liegt am Meer gehört – verweist überdeutlich auf die Universalpoesie der Romantik. Nicht zufällig ist Bernhards geistiger Ahnherr Novalis, der die ausführlichste Begründung der Kunst als Realität ausformte: »Die Poësie ist das ächt absolut Reelle« 17. Bachmann und Bernhard suchen nicht nur den Ausweg aus den Aporien der Kunst, sondern hoffen auch auf eine neue und menschlichere Gesellschaft. Dieser unerschütterliche Glaube beflügelt beide Autoren – entgegen ihrer immerwährenden Skepsis einer tatsächlichen Veränderung – zu schreiben, um zumindest im Bereich der Literatur die Utopie einer neuen Zeit zu ersehnen.
Auslöschung und Utopie sind wie ›mythenreiche Vorstellungswelt‹ und ›ererbter Alptraum‹ die Pole in Bachmanns und Bernhards Werk, welche die extreme Bewegung einer radikalen und unerbittlichen Literatur beschreiben. In ihrem ›Versuch‹ über Bernhard wie im dritten Kapitel in Malina hält Bachmann das Verbindende ihrer und Bernhards Literatur fest: ›Von letzten Dingen‹.
2. Habsburgischer Mythos und Antiheimat
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