Die Autoren und Werke benennt Murau so kategorisch und offen, daß viele Exegeten gerade dieser Direktheit wegen auf eine fundamentale Nichtigkeit und eine bloße Nennung schließen.
Die Werke werden kursiv dargestellt, die Autoren werden hingegen nicht durch einen solchen "graphemischen Indikator" 50gekennzeichnet. Die Bedeutung dieser Kursivierungen ist allerdings bei der verschwenderischen Handhabung dieser Art der Hervorhebung in Bernhards Schriften gering 51; zudem gehören die genannten Werke fast ausschließlich dem etablierten, klassischen Textkanon an, der einem breiten Lesepublikum bekannt ist, so daß selbst diese Betonung von minimaler Relevanz ist.
Die Markierung der inhaltlichen Bezüge ist versteckter, wobei diese bei Kenntnis der zitierten Texte ein beachtliches Sinnpotential enthalten, das vom Rezipienten aufgefüllt werden muß. Daß dies von Bernhard intendiert ist, belegt gerade das fein gesponnene Netz subtiler Erweiterungen seines Romans durch Verweise auf ausgewählte Werke und Autoren. Bernhard führt den Leser nicht an der Hand durch seinen Roman, sondern verläßt sich auf die literarische Bildung 52und Autonomie des Rezipienten, der die Bezüge selbst herstellen muß. Die Leerstellen, die jeder Leser anders füllt, führen von einer hermeneutischen Lektüre weg und leiten zu einem subjektiven Lesen hin. 53
In der Auslöschung werden auf der einen Seite Autoren nebst einem Werk genannt, auf der anderen Seite beschränkt Murau sich auf bloße Nennung bzw. Aufzählung von Schriftstellern.
Wird das Werk nicht direkt zum Thema, so handelt es sich um eine Systemreferenz. Die in der Auslöschung vorliegenden Systeme sind gattungsspezifisch und epochal begründet. Die häufige Erwähnung französischer Philosophen und Literaten der Aufklärung oder der Prosastilisten der französischen und russischen Erzähltradition des 19. Jahrhundert sind eindeutig systemreferent, denn inhaltlich bestimmte Erfahrungen und Erkenntnisse der Zeit der Aufklärung, wie poetologische Verfahren der Romankunst des 19. Jahrhundert werden mit Muraus Innen- und Außenleben verknüpft und konfrontiert.
Wird das Werk genannt, so handelt es sich um eine Einzeltextreferenz. Eine intertextuelle Aufarbeitung bezieht sich in diesem Fall nicht nur auf die Epoche, den literarhistorischen Kontext des Autors oder der Gattung, sondern auf das Werk en detail . Thematische Bereiche wie z.B. die Anarchie oder die Poetikreflexion werden so in ihrer Bedeutung für die Auslöschung erweitert, indem z. B. Titel wie Brochs Esch oder die Anarchie und Kropotkins Memoiren eines Revolutionärs oder Jean Pauls Siebenkäs und Paveses Handwerk des Lebens genannt werden. Daß diese Werke an signifikanten Stellen innerhalb des Romans eingebracht werden, erhöht den Grad des intertextuellen Bezugs.
Ein drittes Bezugsfeld ist eher untypisch in der Intertextualitätsdebatte: die Biographie des Autors. Bernhard hat in seinen Schriften und Reden nicht nur politische Mißstände und deren Verursacher namentlich angeklagt und brüskiert (z.B. den Alt-Nazi Filbinger in Vor dem Ruhestand, 1979, oder den österreichischen Finanzminister in »Vranitzky. Eine Erwiderung«, 1985), sondern auch unliebsame Künstler angegriffen. Die Heidegger-Beschimpfungen in Alte Meister setzten in ihrem Einfallsreichtum und ihrer Komik Maßstäbe, die allenfalls noch von der Goethe-Polemik in Auslöschung erreicht werden.
Die biographischen Projektionsfelder aller Autoren in dieser Untersuchung müssen beachtet werden, da Murau als Bernhards fiktiver Autor eine ausgesprochen persönliche Literaturgeschichte schreibt. Unter der scheinbaren Oberflächenstruktur dieser Biographeme werden substantielle Muster sichtbar, wie z.B. die Krankheitsanfälligkeit des Künstlers und seine daraus resultierende Geistigkeit et vice versa .
Manfred Pfister schlägt ein Modell der Skalierung von Intertextualität vor, in dem er zwischen sechs qualitativen und zwei quantitativen Kriterien der Skalierung unterscheidet.
Hinsichtlich der quantitativen Kriterien ist die Auslöschung hochgradig intertextuell. Sowohl die Zahl und Streubreite der ins Spiel gebrachten Prätexte als auch die Dichte und Häufigkeit der intertextuellen Bezüge ist immens, was einerseits bereits summarisch belegt wurde, andererseits durch die tatsächlichen Bezüge im Hauptteil gezeigt werden wird.
Die qualitativen Kriterien schlüsselt Pfister auf in: Referentialität, Kommunikativität, Autoreflexivität, Strukturalität, Selektivität und Dialogizität. Ein weiteres, in dem Modell Pfister nicht enthaltenes Kriterium, soll noch hinzugefügt werden, denn bei der Fülle an zu untersuchender Literatur muß auch die »Interprätextualität« betrachtet werden:
Gerade in intertextuell besonders dichten Texten ist die Frage, inwieweit sich die herangezogenen Prätexte gegenseitig perspektivisch brechen und relativieren, besonders relevant. 54
Die Betrachtung dieser konterkarierenden Elemente innerhalb des literarischen Diskurses in der Auslöschung wird den Abschluß der intertextuellen Analyse bilden.
An dieser Stelle bereits eine grobe Einordnung des Grades der intertextuellen Intensität der Auslöschung darzustellen, wäre ein verdrehtes Verfahren; jedoch sollen diese Kriterien im Hauptteil bei der jeweiligen intertextuellen Referenz als Folie benutzt werden, um am Ende der Untersuchung – als intertextuelles Fazit – gebündelt betrachtet zu werden.
Wie bereits im Kapitel »Zeitliche Einordnung« gezeigt wurde, gibt es einige Parallelen zwischen der Auslöschung und Bernhards letztem Band seiner Autobiographie Ein Kind. Daß Bernhards Kindheits-Tetralogie biographische Ungenauigkeiten und bewußte fiktionale Ausschmückungen enthält, ist mittlerweile evident 55. Bernhard leugnete dies nie, denn "[l]etzten Endes kommt es nur auf den Wahrheitsgehalt der Lüge an" (Ke 33), bekennt er in Der Keller (1976). Bernhard läßt seine eigenen Erlebnisse und Erfahrungen oftmals unverdeckt in seine Schriften einfließen, so daß viele der wesentlichen Figuren in seinem Werk zwar nicht Selbstcharakterisierungen Bernhards sind, aber dennoch solche enthalten. Diese Ich-Konstruktionen sind zwar nie Bernhard – selbst in den Autobiographien nicht -, aber sprechen, denken und reflektieren die »Realität« in verwandter Weise wie er. 56Dieser Sachverhalt illustriert, wie autobiographisch selbst Bernhards fiktionale Literaturprodukte sind, also seine Erzählungen, Romane und Stücke. Eine Identität von Bernhard und seinen Figuren dahinter zu vermuten, entspräche nicht dem fiktionalen und künstlichen Eigenwert seines Werkes, jedoch besitzen die Protagonisten im Bernhardschen Œuvre viele Züge ihres Schöpfers. Die Bernhard-Kritikerin Sigrid Löffler insistiert nachdrücklich auf der Relation zwischen dem Autor Thomas Bernhard und der Figur Franz-Josef Murau:
Jedenfalls sollte man, wenn man Bernhard schon liest, hinter all dem Gefasel, Geschwätz und Gefuchtel nach dem wahren Thomas Bernhard suchen – das ist ein vor Selbstekel und Selbstmitleid heulender, ganz kleinlauter Wicht, der mitten im Buch hockt, dort wo alle Aufplusterungen nichts mehr helfen. 57
Diese vehemente Äußerung – Murau selbst erklärt, daß der "Übertreibungsfanatismus nämlich zur Übertreibungskunst" (A 611) wird – trifft in ihrem Kern den Roman in seinem tiefsten Inneren, denn Bernhard sitzt tatsächlich mitten in seinem Buch.
Wenn Murau Gambetti auch " Amras von Thomas Bernhard" (A 7) zur Lektüre gibt, ist dies nicht nur ein eitler und ironischer Verweis Bernhards, in das Pantheon der Weltliteratur eingeschlossen zu sein, sondern auch der Hinweis, den intertextuellen Zusammenhang zwischen dem frühen Amras und der späten Auslöschung zu dechiffrieren. Pointiert bedeutete dies, daß er sein Erzählwerk auch in Bezug zu der Auslöschung setzt. Die Autoreflexivität Bernhards scheint nicht nur in der Wiederkehr thematischer, sondern auch formaler und stilistischer Merkmale auf. Den ständigen, topoihaften Wiederholungen in Bernhards Werk spricht Huntemann "selbstparodistische Züge" zu, woraus er folgert:
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