Wie weit Bernhards Auslöschung von einer nicht geglückten Subjektwerdung erzählt und dies poetologisch mit der Form des Romans verknüpft, wird im konkreten Textvergleich im Hauptteil überlegt werden.
Nach diesem kurzen Rückblick auf die Geschichte der Intertextualität soll im folgenden das theoretische Instrumentarium bereitgestellt werden, das zur Dechiffrierung der Beziehung der Auslöschung zu dem genannten Kanon an Prätexten beitragen soll.
Fokussierung der Intertextualtätstheorie auf die Auslöschung
Und ein Buch soll ja sein wie ein Kreuzworträtsel.
(Thomas Bernhard 1986) 28
In der Auslöschung werden 49 Autoren und 22 Werke genannt; allgemeine Verweise auf deutsche, französische, englische, russische, italienische und spanische Literatur wie offene oder verdeckte Zitate, Anspielungen, Paraphrasen und Parodien durchziehen das gesamte Romangefüge. Diese quantitative Nennung besagt noch nichts über den qualitativen Wert dieser Texte und Autoren für die Auslöschung. Die Forschungsliteratur hat gerade wegen dieses overkills von vornherein eine genaue Untersuchung dieser Literaturzitate vermieden, da die Identität eines "haßerfüllten" und "gescheiterten" Murau mit der manischen, inhaltslosen Beschwörung von »Alten Meistern« und »Großen Geistern« bestätigt wird:
Jede intertextuelle Verbindung wird geleugnet bei Juliane Vogel, für die die Zitate ein "Wechselspiel zwischen Deklamation und Gestik", und ein leeres "name-dropping" sind. Letztendlich behauptet sie, daß eine "erläuternde Geste des Hofmeisters und dem Bildungserleben Muraus […] nicht hergestellt" 29werde.
Für Hermann Korte sind "die immer wieder in den Roman eingestreuten Lektürehinweise, etwa auf Werke Jean Pauls, Kafkas, Brochs, Fontanes und Bernhards selbst […] bloße Zitate einer längst obsoleten literarischen Praxis." 30
Andreas Gößling weist auf bestimmte literarische Zusammenhänge hin, wie auf die Murausche Beschwörung der "idealistisch-romantischen Epoche" 31mit Autoren wie Jean Paul, Novalis, Schopenhauer, Kant, Hegel und Heine, wobei nur eine Verbindung zu Novalis’ Heinrich von Ofterdingen ansatzweise hergestellt wird. Letztendlich reicht auch für Gößling die literarische Realitätenvermittlung nicht über den musealen Aspekt eines Bibliothekars hinaus:
Der fiktive wie der reale Autor sind sich des literarhistorischen Zitatcharakters und folglich der Geschichtlichkeit der beschworenen Subjektivität bewußt und damit letztlich gegen die Versuchung gefeit, als museale Kulissenwelt zu restaurieren, was sich qualitativer Vergegenwärtigung über die geschichtlichen Brüche hinweg entzieht. 32
Josef Quack meint, daß es sich bei den "verehrten Autoritäten" Descartes, Voltaire, Kant, Jean Paul und Kafka, die Murau nennt, nicht "um eine renomistische Aufzählung von Berühmtheiten handle", denn im einzelnen lassen sich doch "sachliche Bezugspunkte aufspüren, warum gerade diese Namen angeführt werden." Allerdings wird dies nicht durch Belege verifiziert, hingegen behauptet, daß der Bezug zu Schopenhauer "keine Rätsel" aufgebe, weil "der Erzähler die ethische Auffassung des Philosophen in der Hauptsache [sic!]" 33teile.
Oliver Jahraus betont, im "Rahmen dieser Arbeit kann der Frage, inwieweit diese Referenzen auf andere Werke für das eigene Werk oder den speziellen Text funktionalisiert werden, nicht nachgegangen werden." Paradoxerweise behauptet er anschließend, daß "die Häufigkeit dieser Form der Zitate als Namensgebung oder als Motto [festzuhalten sei], ohne daß im Text eine Auseinandersetzung mit den Autoren im Sinne einer expliziten Reflexion oder Interpretation stattfinden würde." 34In seiner zweiten Arbeit zu Thomas Bernhard gibt der Autor im Überflug eine Art Konkordanz zum Bernhardschen Œuvre heraus, welche die intertextuellen Bezüge in der Auslöschung zwar nicht mehr leugnet, jedoch nur ansatzweise herstellt. 35
Ingeborg Hoesterey gibt in ihrer Untersuchung »Postmoderner Blick auf österreichische Autoren«, in der Bernhard bereits im Titel unter die Postmoderne subsumiert wird, einen konkreten Ratschlag zu einer intertextuellen Lektüre vor:
Auch Thomas Bernhard verweist in zahlreichen seiner Dramen wie auch Prosaarbeiten auf den intertextuellen Status von Schreiben heute, bzw. auf das intensivere Bewußtsein zeitgenössischer Autoren hinsichtlich ihrer Bedingtheit durch die Tradition ihres Mediums. Als besonders prononciertes Beispiel hierfür sei der Beginn von Bernhards Auslöschung. Ein Zerfall (1986) genannt, wo der Autor seinen Ich-Erzähler einen literarischen Kanon zwecks Beherzigung durch seinen Schüler entwerfen läßt, eine ebenso ernstzunehmende wie spöttisch-paradostische Reflexion auf das Lesen des Schreibens. 36
Die Autorin gibt zwar die Andeutung, daß es sich um "ernstzunehmende" Reflexionen handeln könne, die sie aber nicht ausführt.
Intertextuelle Bezüge in der Auslöschung werden also entweder geleugnet oder nicht hergestellt, desungeachtet, daß einige Interpreten das Bernhardsche Werk bis zur Auslöschung mit einzelnen Autoren wie Schopenhauer 37, Kierkegaard 38, Heidegger 39, Pascal 40, Novalis 41, Stifter 42, Beckett 43, Wittgenstein 44, Kafka 45u.a. kontrastierten.
Dieser Untersuchung liegt die Ansicht zugrunde, daß das Bernhardsche Œuvre im allgemeinen und die Auslöschung im besonderen sich einer klaren Subsumierung unter einen einzigen Autor entziehen: Bernhard komponiert polyphon, ganz im Sinne Roland Barthes’:
[…] der Inter-Text ist nicht unbedingt ein Feld von Einflüssen; vielmehr eine Musik von Figuren, Metaphern, Wort-Gedanken; es ist der Signfikant als Sirene. 46
Diese Definition trifft Bernhards musikalisches Verfahren, das im Novalis-Kapitel unter sprachlichen Aspekten untersucht werden wird, als formales Prinzip der Intertextualität. Dieses schwebende Verfahren statuiert kein klar umrissenes intertextuelles Feld, das dechiffriert werden muß, sondern einen nonchalanten Dialog mit Autoren und Werken.
In dieser Untersuchung wird der dekonstruktivistische und postmoderne Ansatz eines universalen Intertextes abgelehnt; das soll nicht bedeuten, daß nicht auch der Gedanke einer »Bibliothek von Babel« bei Bernhards literarischen Unternehmungen mitschwingt, jedoch ist dieser Ansatz untauglich, um im Konkreten tiefere Schichten eines Textes bloßzulegen:
Denn wenn die Individualität und Subjektivität des Autors als intentionale Instanz zum bloßen Medium herabsinkt, dessen sich das universelle Spiel intertextueller Referenzen undifferenziert bedient, wenn auch die Instanz des Lesers ihre klare Identität verliert und stattdessen aufgeht in der Pluralität eines universellen Intertextes, und wenn schließlich auch der Text sich entgrenzt zu einer Momentaufnahme in einem Universum der Texte, einem Kontinuum der pluralen Codes, bei denen selbst die elementare Verbindung von Signifikant und Siginfikat nicht mehr trägt, dann wird in gleichem Maße auch die Frage nach der Funktion entgrenzt und zunehmend gegenstandslos. 47
Der Begriff des Textes wird auf einen literarischen eingeschränkt 48; diese Subkategorisierung gilt nicht nur für die Auslöschung, die eindeutig dem Genre der sogenannten »Belletristik« zuzuordnen ist, sondern auch für die Prätexte. Muraus Selbsteinschätzung eines "literarischen Realitätenvermittlers" impliziert bereits eine solche Einengung des Terminus.
Außerdem werden nur die im Roman erwähnten Autoren und Werke betrachtet, denn eine intertextuelle Arbeit darf "kein Freibrief für beliebige Assoziationen des Rezipienten" 49sein.
Diese Abgrenzungen sollen dem Text als Intertext am gerechtesten werden, damit einerseits das Sinnpotential der vergleichenden Prätexte voll auszuschöpfen, andererseits den Text nicht unnötig aufzublähen.
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