»Und ich hole etwas zum Kühlen«, schlug Mina starr vor Streck vor.
Kurz darauf lag Stev auf meinem Bett, ein nasses Tuch auf der Stirn, die Wunden weitestgehend gereinigt und verarztet.
Mina, John und Simone standen um meinen Freund herum, Alfred hatte sich in eine Ecke verzogen und telefonierte hektisch mit dem Vater von Rosy. Sam war ein angesehener Chirurg und Arzt.
»Nein, ist schon gut. Wir werden es versuchen. Bis später.«
Alfred schloss das Gespräch ab und drehte sich zu uns um. Sein Gesicht war sehr blass und Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn.
»Sam hat soeben einen Notfall in Zürich. Er wird, so hofft er, in einer Stunde bei uns sein können. Bis dahin sollen wir Stev warm halten, seinen Puls messen und ihm eine Beruhigungstablette verabreichen. Nur im äußersten Notfall sollten wir einen Arzt aus Waldhusen holen. Erst wenn sein Puls auf über hundertfünfzig steigt. Sam vermutet, dass Stev Zuckungen oder derartiges erleiden wird. Die Tablette wird seinen überhitzten Stoffwechsel beruhigen. Mehr will er ihm vorerst nicht geben. Er muss sich ihn zuvor anschauen. Also…«
Wortlos nahmen wir unsere Aufgaben entgegen. Mina wollte aus der Küche die Tablette holen. Alfred nahm sich den Puls seines Sohnes vor. Und John und ich wickelten ihn in zwei Decken ein, bis schließlich Stev in einem wollenen Kokou eingeschlossen war.
In einer Stunde erst. Erst dann konnte Stev von einem geschulten Auge untersucht werden. Der Besuch bei einem Arzt, der kein Asgardtler war, war ausgeschlossen. Misstrauische Fragen. Was, wenn Stev etwas zugestoßen war, das mit der Asgardtfamilie in Verbindung stand?
Wir konnten nichts mehr für Stev tun. Nur noch warten und hoffen, dass Sam nicht aufgehalten wurde.
Die Erwachsenen gingen in die Küche, nachdem ich die Aufgabe seinen Puls zu messen übernommen hatte. Für mich kam es nicht in Frage, meinen Freund unbeaufsichtigt zu lassen. Und doch war ich froh, als ich alleine war – also Stev und Odin nicht mitgezählt. Da waren zu viele Sachen in meinem überhitzen Kopf, worüber ich nachdenken musste. Ziellos ging ich in meinem schwach beleuchteten Zimmer auf und ab, ab und zu nach Stevs Puls schauend. Nun bewegte sich sein Brustkorb gleichmäßiger und das röchelnde Atmen hatte nachgelassen.
Was war seit gestern alles passiert? Einmal die Auswahl, womit ich nun vollwertiges Mitglied in der Asgardtfamilie war. Dann Libras und seine mysteriösen Zeichen. Mein Leben stand auf seiner blanken Klinge. Meine Zukunft spiegelte sich darin und ich wusste nicht, was sie hieß. Ich hatte einen Brief vom international gewählten Rat der vereinigten Asgardtfamilie bekommen. Und Stev lag in Lebensgefahr vor mir? Mein Leben verändert sich, dass wusste ich. Wie und warum wusste ich nicht.
Ab und zu schaute einer der Erwachsenen vorbei, erkundigte sich nach Stevs Wohlbefinden. Dann sagte ich immer: »Ihm geht’s gut«, oder: »Er wird schon wieder gesund.« Doch ich wusste, dass es reine Hoffnung war. Es gab keine Hinweise auf eine wirkliche Genesung. Wir mussten einfach auf Sams Beurteilung warten.
Draußen war es stockdunkel, als endlich an der Haustür geklingelt wurde. Von unten drangen hektische Stimmen herauf, deren Besitzer polternd die Treppen hinauf kamen. Sams schmales Gesicht erschien vor der Tür. Er hatte zwei weiße Koffer in der Hand und schenkte mir ein kurzes Hallo. Dann kniete er sich vor dem Patienten nieder und nahm eine Taschenlampe aus einem der Koffer. Damit leuchtete er in Stevs Augen. Wir halfen ihm, meinen Freund aus den Deckenschichten zu befreien und Sam horchte seinen Rücken und seine Brust ab. Er fuhr mit den Fingern an Stevs Nacken entlang, drückte ihm mehrmals in die Seite und bewegte sein Kinn.
»Ich glaube, er braucht Nitroxynol«, faselte er und kramte in dem zweiten Koffer nach einer kleinen grünen Schachtel. Ihr entnahm er drei Kapseln, die er Stev in den trocknenden Mund schob. Dann richtete er sich auf.
Inzwischen hatten sich die anderen hinter mir gesammelt.
»So, das ist alles, was ich für ihn tun kann.«
»Aber, was hat er?« fragte Simone, die Hände verkrampft vor den Mund haltend. Sam setzte eine bedrückte Miene auf.
»Ich kann es leider wirklich nicht genau sagen«, gab er zu. »Meine Vermutung ist, dass er vergiftet wurde. Durch wen oder was ist mir unklar. Ich hätte die Möglichkeit, ihm Blut abzunehmen und es im Labor untersuchen zu lassen. Doch auf ein Ergebnis kann man manchmal mehrere Tage warten. Ich habe ihm fürs erste ein Mittel gegeben, das die meisten Gifte und Bakterien dieser Art abschwächt. Doch bevor wir nicht genau wissen, was ihm passiert ist, kann ich ihm nichts Spezielles verabreichen. Dabei würde ich zu viel aufs Spiel setzten. Allerdings hätte ich da noch einen Anhaltspunkt, der uns weiterbringen könnte.« Er drehte Stev auf den Bauch und zog sein Shirt zurück. Ich erstarrte.
Eine blaue Fleischwunde war in seine rechte Seite eingeschlitzt. Die Haut um die Wunde war tiefrot unterlaufen und blutverschmiert.
»Das kommt, glaube ich, von einer Kralle eines ziemlich großen Tieres.« Sam fuhr die parallel verlaufenden Schlitze in Stevs Fleisch nach. »Sie ist gereinigt. Bevor ich sie verbinde, hätte ich gerne gewusst, von welchem Tier es, eurer Meinung nach, kommen könnte.«
»Sieht aus, wie von einem Bär oder einer Raubkatze. Doch beides kommt hier nicht vor«, überlegte Alfred und in seiner Stimme lag genau so viel Ekel, wie ich empfand. Wer oder was konnte Stev das nur antun? Vergiftet, mit einer gefährlichen Wunde versehen.
»Wo war er denn, bevor er gekommen ist?«, erkundigte sich Sam und begann die Wunde zu desinfizieren und seinen Oberkörper mit einer weißen Binde zu umwickeln.
»Er wollte am Siegelhorn entlang. Und zuvor war er noch kurz bei William«, erinnerte sich Simone.
»Der Angriff kann nicht zu weit entfernt gewesen sein. Ich glaube nicht, dass Stev mit einer derartigen Wunde weit gekommen wäre«, folgerte Sam, doch ich dachte an etwas anderes.
William… Das erinnerte mich an etwas. Was hatte William mir vor nicht all zu langer Zeit gesagt? Ein Raubtier. Ein Raubtier der Fosit. Sie hatten eine fast gänzlich ausgestorbene Urwolfsart nachgezüchtete. Ja, eine Wolfsart. Den Kobrus.
»Ich hab’s!«, sagte ich unvermittelt. Die anderen starrten mich begriffsstutzig an. Sie hatten vermutlich gerade über etwas ganz anderes geredet.
Doch ich sprudelte los: »Stev wurde von den Fosit angegriffen! Die Fosit ließen ihn vergiften. Aber warum…?«
»Die Fosit? James, weißt du, von was du redest? Wie sollten sie… warum denn…?« John zog verwirrt die Augenbrauen hoch. Ich versuchte ihnen meine Vermutung zu erklären.
»Sozusagen ein Kriegswolf der Amerikaner? Dem sie den Auftrag geben, andere zu vergiften oder zu töten? Warum sollten sie ausgerechnet Stev attackieren lassen?«
»Das ist die Frage. Doch zuerst sollten wir herausfinden, was für ein Gift die Kobruswölfe besitzen und woher man das Gegengift bekommt«, antwortete ich auf Alfreds Frage.
»Ich kann morgen im Krankenarchiv des Ärzteverbandes der Schweiz nachschlagen«, schlug Sam vor, »bezweifle allerdings, dass dort etwas über das Gift eines Wolfs der Asgardtfamilie steht«. Aber John widersprach.
»Ich habe eine bessere Idee. Lesar hat ein ziemlich umfangreiches Wissen über die Tier- und Pflanzenwelt. Das Beste wäre, wenn ich ihn gleich anrufe. Vielen Dank für deine Zeit Sam. Ich glaube, du kannst hier nicht mehr viel ausrichten.« Sam nickte zustimmend und begann, seine Koffer zusammenzupacken.
John eilte aus dem Zimmer, vermutlich um in Ruhe mit Lesar, dem derzeitigen Anführer des Nasosstammes, zu reden. Ich sah ein, dass es nutzlos war, hier weiter herumzustehen und zog mich zurück. Im Gang vor dem Krankenlager nahm ich das Handy aus meiner Tasche und wählte die Nummer von Rosy. Es tütete und piepste und ich hörte die hohe Stimme von Rosy Seem.
Читать дальше