»Super!« bedankte ich mich bei meiner Mutter und umarmte sie. »Habt Ihr Eure auch nach Eurer Auswahl bekommen?«
»Ich schon. Damals von meinen Großeltern. Doch John hatte sich seine Tasche selbst zulegen müssen. Das war kurz bevor wir uns angefreundet hatten. Seine Eltern hatten ihm zuvor immer gesagt dieses Zubehör sei unnötig rausgeworfenes Geld.«
Ich kannte meine Großeltern eigentlich ganz anders. Geld spielte für sie keine Rolle. Vielleicht lag es nur an ihrem Alter oder ihren beiden gut verdienenden Söhnen.
»Wann kommt Dad?«
»Er sagte, vor dem Mittagessen wolle er wieder Daheim sein. Aber du kennst ihn. Jetzt muss ich anfangen das Essen für heute Abend zu richten, wenn die Finleys kommen.«
Mina begann einen Einkaufszettel aufzustellen und ich ging zwei Zimmer weiter in die Bibliothek des Hauses. Dunkelbraune Regale, die bis unter die hohe Decke reichten, reihten sich an den Wänden entlang. In der Mitte des Raumes befand sich ein kreisrunder Tisch, bestückt mir zwei Recherchecomputern und Tischlampen. Bequeme Lesesessel standen um ihn herum und mich packte, wie immer wenn ich diesen Raum betrat, die Begierde, eines der unzähligen Büchern aus den Regalen zu suchen und mich in die Welt der Buchstaben fallen zu lassen. Der Bildschirm, der gegenüber der Tür hing, wurde oft von meinem Vater benutzt. Einerseits, wenn er wichtige Ferngespräche mit Angestellten seiner Firma zu führen hatte und andererseits, wenn die Sportschau von ihm heiß ersehnte Spiele übertrug.
Ich fuhr einen der Rechner hoch und begann nach dem Begriff Icerotes zu googlen. Wie erwartet, gab es keine hilfreichen Treffer. Eine Fremdwortdefinition, die allerdings nur das Wort Icrators kannte, eine amerikanische Amateurseite, die das Wort Iceris ansprach und ein Auktionshaus, das eine Brille der japanischen Marke Ikerose anbot. Ich gab ein zweites Wort in die Suchleiste ein. Asgardtfamilie erzielte schon einige mehr Ergebnisse. Die meisten befassten sich mit den germanischen Göttern, woher schließlich der Name Asgardt stammt. Über meine Familie fand ich nichts Aufschlussreiches. Lediglich eine Seite, die über die Beschäftigten der Zentralbank von Amerika Auskunft gab. Darin wurde der Direktor mit dem Zweitnamen Asgardt und zwei Zeilen darunter Angehöriger einer altehrwürdigen Familie beschrieben. Ob diese Person tatsächlich ein Mitglied der Asgardtfamilie war, kann ich nicht sagen.
Ich wollte schon den Computer ausschalten, als mir noch eine dritte Möglichkeit einfiel. Ich tippte Legenden und Geschichten des zweiten Jahrtausends in Griechenland ein und fand eine Seite der Universität Wien.
Ich begann zu lesen.
Es ranken sich viele Mythen und Legenden um die sogenannte Alphafamilie. Fachliches Wissen konnte bis jetzt noch nicht feststellen, ob es diese Organisation wirklich gibt, oder die sagenumwobene Legende um sie nur eine Geschichte des fr ü hen ersten Jahrhunderts vor Christus ist. Es gibt zwar keine Aufzeichnungen oder materiellen Hinweise ü ber die Existenz der Alphafamilie, doch m ü ndliche Ü berlieferungen faszinieren bis heute die Geschichtswissenschaftler und Philosophen. Demnach soll es im antiken Griechenland ein Geheimbund gegeben haben, dessen Aktivit ä ten oder Vorhaben allerdings schon zur damaligen Zeit umstritten waren. Im Laufe der Jahrzehnte hat sich dieser Verband – man nannte sie „ Alphafamilie “ – ü ber ganz Europa verteilt. Eintausend Jahre vor Christi Geburt soll es ein Zwischenfall in der Alphafamilie gegeben haben. Anh ä nger stritten sich untereinander und bald spaltete sich diese Familie in f ü nf St ä mme auf. Es hei ß t, man habe sich auf ein Abkommen entschlossen, wonach jeder Stamm einen der f ü nf Kontinente unserer Erde bekommen sollte. Den anderen St ä mmen war es von nun an verboten, das Landgebiet der Feinde zu betreten. Es soll ein Versto ß des amerikanischen Stammes gewesen sein, der schlie ß lich einen Krieg, unvorstellbarer und gewaltiger als alles, was die Menschheit jemals zuvor erlebt hatte, ausl ö ste. Denn den Mitgliedern der Alphafamilie wurden magische F ä higkeiten zugeschrieben. Zu dieser Zeit der Furcht und des Schreckens schlossen sich drei St ä mme zusammen. Europa, Australien und Afrika bildeten zusammen einen starken Gegner f ü r die Amerikaner, die widerwillig einen Pakt mit Asien geschlossen hatten. Ein zu starker Gegner waren sie und konnten somit das Ende des Krieges herbei zwingen. Sie mussten viele Vertr ä ge mit Amerika aushandeln, bis endlich der zuk ü nftige Frieden gew ä hrleistet war. Von nun an mussten sie in st ä ndiger Angst vor einem Angriff der anderen St ä mme leben. Einige Jahrzehnte nach Christi verlieren sich die br ü chigen Informationen ü ber diese Alphafamilie. Und heute ist sie nur noch eine umstrittene Legende. Nat ü rlich basiert diese Geschichte auf rein imagin ä ren Quellen und kann nicht wissenschaftlich nachgewiesen werden. Doch die Suche ist damit noch nicht beendet.
Anschließend folgte noch eine Liste wichtiger Geschichtsprofessoren, die sich mit den Quellen dieser Erzählung befasst hatten. Doch ich schloss das Fenster und schaltete den Rechner aus.
Auf der obersten Ebene eines Bücherregals fand ich ein Buch mit dem Titel „Geschichtliche Entwicklung der Asgardtfamilie“. In diesem Buch, so wusste ich, war genau die Geschichte beschrieben, wie sie auf der Seite der Wiener Universität zu lesen war. Mit der Ausnahme, dass die Beschreibung im Buch zu hundert Prozent realistisch und mit vielen Namen und genauen Daten bestückt war.
Ich kannte die Geschichte. Es war gewesen, wie es auf der Internetseite geschrieben stand: Ein Streit um die Machtverhältnisse zwischen den ersten Nachfahren hatte die Asgardtfamilie in fünf Stämme geteilt. Man hatte sich tatsächlich darauf geeinigt, dass jedem Stamm ein Erdteil zum Beschützen, zum Pflegen, zum Beherrschen und zum Leben zugesprochen worden war. So waren die Stämme Nasos, Rubi, Clatura, Fosit und der Murexstamm, meinem Heimatstamm entstanden. Die Nasos, die Australien beherrschten, die afrikanischen Rubi und der europäische Murexstamm hatten nie den Krieg gesucht. Doch Sutin, der Gründer des Stammes Fosit, hatte den asiatischen Stamm Clatura dazu überredet, die anderen drei Stämme trotz des Vertrags anzugreifen. Man nannte als Grund seinen Machthunger. Dieser Krieg wurde in der Geschichte der Asgardtfamilie Asgardtkrieg genannt. Er hatte viele Jahre angehalten, überdauerte sogar Sutins Leben, bis sich der Murexstamm mit den Nasos und Rubi verbündete und sie dem Krieg ein Ende setzten. Ab diesem Zeitpunkt begann eine unverminderte Feindschaft zwischen den drei Frieden suchenden Stämmen und Amerika und Asien zu herrschen. Selbst jetzt noch gab es Streitereien und Konflikte zwischen uns und Nebur, dem derzeitigen Anführer der Fosit. Ich wusste, dass Nebur nichts gegen einen weiteren Krieg hätte. Er konnte uns nicht ausstehen. Meinen Heimatstamm, die Nasos und die Rubi. Doch er wusste, dass er uns nicht besiegen würde. Dafür war seine Armee zu klein. Somit konnte ich bis jetzt, in einer Zeit des angespannten Friedens, zwischen den einzelnen Stämmen aufwachsen. Doch wie lange würde er noch bestehen? Wann war es so weit, dass der dünne Faden, an dem der Frieden baumelte, reißen würde? Irgendwann würde der Moment kommen, an dem wir zu kämpfen hätten.
Den Vormittag über stöberte ich in den antiken Regalen, zwischen den Büchern, die den typischen Geruch von Antiquariaten in sich trugen, bis mich Mina zum Mittagessen rief.
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