In der Küche legte ich Libras auf den Esstisch und öffnete gespannt den ersten Brief. Wie die Anschrift war der Inhalt handgeschrieben.
»Ist der von…«, wollte John wissen und ich nickte erwartungsvoll.
Sehr geehrter James Harrison,
an diesem Tag erwartet Sie Ihre Auswahl. Mit dem Vollenden der Auswahl werden Sie in die International Vereinigte Asgardtfamilie aufgenommen. Mit dem Erhalt Ihres Icerotes, haben Sie folgende Aufgaben und Pflichten: Sie m ü ssen Ihrem Stamm (Murex) in jeder Situation die Treue halten. Ihnen wird untersagt, den Amerikanischen Boden ohne spezielle Erlaubnis zu betreten. Jeder Kontakt mit einem Fosit oder Clatura ist Ihnen strengstens verboten. Bewahren Sie das Geheimnis um die Asgardtfamilie und f ü hren Sie Ihr Icerotes keinesfalls einer unautorisierten Person vor. Beteiligen Sie sich an der Aufrechterhaltung des bestehenden Friedens. Zus ä tzlich stehen Sie unter den allgemeinen und internationalen Grund- und Menschenrechten, insbesondere den Staatsrechten der Vereinigten Europ ä ischen Union. Bei Fragen oder Problemen richten Sie sich bitte an Ihren Stammesleiter.
Einen erfreulichen Tag Ihnen und Ihrer Familie.
Hochachtungsvoll,
der international ernannte Rat der vereinigten Asgardtfamilie
»Förmlichkeit muss eingehalten werden«, murmelte John, der über meiner Schulter den Brief gelesen hatte. »Ich habe Harry schon oft genug gesagt, dass es unsinnig sei, seinen Neffen einen derart formellen Brief zu schreiben. Doch er meinte, es solle offiziell und traditionell bleiben.«
Harry war das Stammesoberhaupt der Murex und der jüngere Bruder meines Vaters.
»Kommt der wirklich aus Athen?« fragte ich.
»Ich glaube schon, schließlich ist dort die Zentrale und der Sitz des Rates«, überlegte mein Vater. Er schmunzelte. »So James, du hast es gehört – oder besser gesagt gelesen. Nun bist Du Teil der Asgardtfamilie.«
Die Asgardtfamilie. Der winzige Teil der Menschheit, die sich vor gut dreitausend Jahren von den anderen Menschen abgekapselt hatte, um das Geheimnis der Icerotes vor den anderen zu bewahren und den Nachkommen zu überliefern. Der Geschichte der Asgardtfamilie nach, waren es sieben Personen gewesen, die das Geheimnis der Icerotes entdeckt hatten. Vielmehr waren sie dazu bestimmt worden, die Icerotes zu kennen und sie, wie ich jetzt, zu besitzen. Es soll eine übernatürliche Kraft gewesen sein, die diese sieben zu den ersten Mitgliedern der Asgardtfamilie gemacht hatte. Aus ihnen entstammten meine Ahnen, die mit dem Wissen, die Icerotes vor anderen Menschen zu verbergen, gelebt hatten. Aus ihnen wurde schließlich ein kleiner Stamm. Mit der Auswahl war ich ein Teil dieser Asgardtfamilie und hatte die Aufgaben, mit denen sich auch schon meine Vorfahren herumschlugen. Leben mit den Icerotes und Leben für die Icerotes. Das war und ist das Motto der Asgardtfamilie. Denn sie schenkten uns das Leben. Der Rat, das waren die Ältesten und Stammesführer der Asgardtfamilie, kümmerte sich um alle politischen und sozialen Angelegenheiten. So war auch Harry als Stammesoberhaupt ein Angehöriger dieses Rats.
Der persönliche Brief von Lisa und Harry war eine Glückwunschkarte, die ich auf ein Bücherregal neben ein Bild, das meine Großeltern zeigte, stellte. Den Brief meiner Freunde wollte ich mir für später aufheben.
Nach dem Abendessen setzten wir uns im Wohnzimmer vor dem knisternden Kamin zusammen.
»War es schön?«, flüsterte Mina und strich mir durch meine Haare. Lange sagte ich nichts, doch dann lächelte ich zufrieden und nahm ihre Hand. Wir hörten dem knackendem Holz im Ofen zu und lauschten dem Wind, der gegen die Hauswand hämmerte. Lange blieben wir so zusammen sitzen, ruhig und einfach nur froh.
Bevor ich zu Bett ging, schaute ich mir den Brief meiner Freunde an.
Hi James,
wir w ü nschen dir alles alles Gute f ü r deine Auswahl und hoffen, du hast einen wundersch ö nen Tag. Wir sind schon gespannt darauf, deinen Icerotes kennenzulernen. Stev siehst du ja morgen. Bis bald,
Rosy, William und Stev
Überglücklich, meine unersetzbaren Freunde zu haben, legte ich mich in mein weiches Bett. Doch einschlafen konnte ich trotz meines Glücksgefühls nicht. Mich beschäftigte zu sehr, was alles an diesem Tag geschehen war. Die unheimliche Insel, der merkwürdige Horan, die Übelkeit erregende Auswahl und natürlich Libras mit den unbekannten Zeichen. Was der Satz wohl hieß? Ich hatte gedacht, nach diesem Tag würde mein Leben in eine ganz bestimmte Richtung gelenkt werden. Stattdessen sah ich nun hunderte, ja tausende Wege für meine Zukunft offen stehen und ich wusste nicht, welchen ich gehen sollte.
Der Kobruswolf
Am nächsten Morgen erwartete mich eine weitere Überraschung. Auf dem gedeckten Frühstückstisch wartete ein in gelbes Papier eingewickeltes Päckchen auf mich, als ich verschlafen eintrat.
»Ist das für mich?«, vergewisserte ich mich, bevor ich es in Augenschein nahm. Mina nickte lächelnd, während sie den Kaminsims abstaubte.
»John wollte eigentlich dabei sein, wenn Du es aufmachst, doch er wurde kurzfristig von seinem Agenten angerufen. Es soll sehr dringend sein. Du brauchst nicht auf ihn zu warten.«
Unter dem Papier befand sich eine flache Schatulle. Sie war aus dünnem Holz und roch nach Leder. Darin, gebettet in ein weißes Tuch, lagen einige Streifen rauen Tierleders. Als ich es herausnahm, entpuppte es sich als eine Art lange und sehr dünne Tasche. Ich wusste sofort, was es war. Damals, als die Menschen das erste Mal ein Icerotes besessen hatten, war für sie schnell ein Problem entstanden. Wie sollten sie ihre Icerotes immer bei sich tragen ohne dass es den anderen Menschen auffiel? Man hatte schließlich diese lederne Scheide entwickelt, durch die man, indem man sie über die Schultern hing, das Schwert problemlos auf dem Rücken tragen konnte. Ein normales Metallschwert dieser Länge – die Icerotes waren um einiges kürzer als normale Schwerter, etwa einen Meter lang – hätte sich nicht gut am Rücken getan. Doch die Icerotes waren mächtige Wesen und ihren magischen Eigenschaften war es zu verdanken, dass sie sich an die Rückenform anpassten. Wissenschaftler der Asgardtfamilie hatten schon oft versucht herauszufinden, was es mit den Icerotes auf sich habe. Ihr Geheimnis blieb selbst der Asgardtfamilie ein Geheimnis. Bis zum heutigen Tag hatte man noch nichts über die wahre Lebensform und Kraft der Icerotes herausfinden können. Man konnte lediglich spekulieren. Eine der berühmtesten Ideen der Asgardtfamilie war, dass die Icerotes nicht nur in der Form der Schwerter existierten. Sie mussten noch in irgendeiner Gestalt materiell oder imaginär vorhanden sein. Nicht auf der Erde oder sonst wo im Universum. Denn das Raum-Zeit-Kontinuum hatte eine viel zu brüchige Form, als dass es die Gegenwart eines so mächtigen Geschöpfes, wie das Icerotes, standhalten könnte. Diese zweite Existenz der Icerotes musste viel kraftvoller, mächtiger sein, als ihre Lebensform, als Schwert auf der Erde. Sie waren etwas Unvorstellbares, sehr viel weiterentwickelter als der Mensch. Von daher konnten wir ein Icerotes auch nicht verstehen. Weil es für unser Verständnis des Seins und Nicht-Seins zu magisch war.
»Und?«, fragte Mina gespannt. Sie hatte aufgehört zu putzen und wartete auf meine Reaktion.
Ich nahm Libras und schob ihn in die Scheide. Makellos passte sich das Leder an Libras Form an. Meine Mutter half mir, mein Geschenk an meinem Oberkörper zu befestigen. Tatsächlich spürte ich keine Unbequemlichkeit, die mir Libras durch seine harte Klinge hätte zufügen können.
»Versuche 'mal Libras herauszuholen«, schlug Mina interessiert vor. Ich griff hinter meinen Kopf und fand auf Anhieb den Griff meines Icerotes. Lautlos ließ er sich herausziehen. Ich war verunsichert, ob ich ihn genauso leicht wieder in die Scheide verschwinden lassen könnte. Was wäre, wenn ich verfehlen und meine Haut, an der das Leder anlag, aufschlitzen würde? Doch meine Befürchtung war grundlos. Als würde sich Libras selbst den Weg zur Scheide suchen, konnte ich ihn problemlos hineingleiten lassen.
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