Ohne auf die Erlaubnis zu warten, streckte ich meine Hand aus und umgriff Libras. Bei dieser Berührung ging von meiner rechten Hand, die mit dem Icerotes verbunden war, ein berauschendes Gefühl aus. Vom Kopf bis in die Fingerspitzen, in meinem ganzen Körper konnte ich spüren, wie sich die Kraft von Libras ausbreitete. Geschmeidig passte sich das Schwert meinem Griff an – wie für mich gemacht.
Der alte Mann trat einige Meter von mir und dem Steintisch weg. Kurz darauf wusste ich auch wieso. Denn nun begann das Schwert zu leuchten, heller und heller. Eine Art Lichtkuppel bildete sich über mir. Der schwarze Raum war in gleißendes Licht getaucht. Libras Kraft brach in mein neues Leben, in meinen Körper, meine Seele ein, durchdrang das Innerste meiner Gedanken. Und dann war alles zu Ende. Das Licht löste sich auf und hinterließ ein einziges kraftvolles Glücksgefühl. Libras lag ruhig in meiner Hand. Horan fing an zu klatschen und ein breites Lächeln machte sich auf meinem Gesicht breit.
»Nun, du kannst gehen, doch achte auf meine Worte.« Unfassbar starrte ich Libras an, meinem Icerotes, meinem Wegbegleiter.
Meine Mutter hatte auf einem gepolsterten Stuhl Platz genommen, John saß auf dessen Lehne und las die heutige Zeitungsausgabe und Phillip schaute aus einem der großen achteckigen Fenster. Von hier aus hatte man einen beachtenswerten Blick auf das Mittelmeer. Wenn mich nicht der Schmutz auf dem Glas täuschte, konnte man sogar die Küste Italiens sehen. Sie war per Schiff nur einige Minuten von dort entfernt. John hatte mir erzählt, es ginge ein allgemeines Gerücht umher, dass Li Metro eine Privatinsel irgendeines reichen Amerikaners sei. Doch das war natürlich Quatsch. Allerdings half das Gerücht, unliebsame Besucher von der kleinen Insel fern zu halten.
Horan kehrte zurück ins Zimmer und Mina schaute auf.
»Wie war’s?« Ich wollte ihr stolz Libras zeigen, doch sie schaute abrupt weg. Auch John würdigte meinem Icerotes keines Blickes. Nur Phillip warf ihm beiläufig einen Blick zu und begann dann sein Mantelärmel zu richten.
»Was ist los?«, fragte ich perplex.
»Hast du schon die Inschrift gelesen?«, fragte meine Mutter spitz, auf den Boden blickend. Was war mit ihnen los?
»Wieso denn?«, fragte ich beleidigt, »Ich kann diese Runen eh nicht entziffern.« Aber es war nicht Mina, die antwortete.
»Deine Mutter hat vollkommen Recht, Mr James. Ich selbst kenne Ihre Inschrift nicht. Sie ist nur für Sie bestimmt. Bevor Sie sie nicht kennen, ist es jedem anderem nicht gestattet, Ihre Inschrift zu studieren. Moment bitte, ich habe hier irgendwo ein Runenwörterbuch. Damit können Sie Ihr Schicksal entziffern. Warten Sie bitte…«, und er ging hinter die Ladentheke und kramte in seinen Unterlagen herum. Daraufhin hievte er ein sehr dickes, in Leder gebundenes Buch auf die Tischplatte. Es sah verstaubt aus und das bräunliche Leder war gewellt, wie Meerwasser am Strand.
»Hier, hiermit schaffen Sie es bestimmt. Nehmen Sie sich etwas Zeit. Wer möchte Kaffee, Tee oder Saft? Gebäck hätte ich noch.« Der gebrechliche Mann ging durch die Tür, aus der er gekommen war, als wir in den Laden gekommen waren. Man konnte Geklapper und fließendes Wasser hören.
»Ein sehr netter Mann, oder?«, fragte John, holte sich einen weiteren Stuhl und forderte Phillip auf, sich zu setzen. Ich selbst ging zur Theke und trug das schwere Buch zu einem der storchbeinigen Tische. Das Leder fühlte sich abgegriffen und rau an. Libras deponierte ich neben das Buch und schlug es erwartungsvoll hüpfenden Herzens auf.
Es war von Hand geschrieben. Da gab es Zeichen, die ineinander flossen, große, kleine, manche mit Zacken und wieder andere stilvoll gewellt. Doch die Tinte war an manchen Stellen schon so verblichen, dass ich Mühe hatte, die Übersetzung der jeweiligen Rune zu entziffern. Vorsichtig blätterte ich die vergilbten Seiten um. Hier und da gab es sogar einzelne Bilder. Ich war begeistert. Nie zuvor hatte ich so etwas Antikes in der Hand gehabt. Dann schenkte ich Libras meine Aufmerksamkeit und inspizierte die geschwungene Gravur. Horan kam mit einem befüllten Tablett zurück und stellte es auf den Tisch, um den sich die anderen gesellt hatten.
»Mr. Horan,… äh… schauen Sie einmal hier. Ich glaube, diese Zeichen auf Libras gibt es gar nicht in diesem Buch«, sagte ich langsam und fuhr mit den Fingern die Symbole auf meinem Schwert nach.
»Wie bitte, mein Lieber?«, sagte Horan und trat zu mir.
»Ja, schauen Sie. Die Zeichen auf meinem Icerotes sind in einer ganz anderen Schriftart geschrieben.« Er beugte sich interessiert über meine Schulter.
»Nein, das kann nicht sein«, sagte er, genau so entsetzt wie ich. »Das kann nicht wahr sein. So etwas war noch nie zuvor…«
Aber doch, ich hatte die Zeichen genau begutachtet. Die Runen sahen im Gesamten kantig und unübersichtlich aus, aufgebaut aus diversen Strichen. Doch die auf meinem Schwert waren alle geschwungen, eines Ansatzes geschrieben und nicht zu vergleichen mit den Runen des Buches.
»Nun, ich habe keine Erklärung dafür. Eigentlich sind alle Runen, die auf einem Icerotes stehen können, in diesem Buch vermerkt.«
»Gibt es ein Problem?« Mein Vater war aufgestanden, um sich die Sache genauer anzuschauen und stand nun zu meiner Rechten.
»Schau.« Er nahm sein eigenes Icerotes und hielt es ans Licht, um die Inschrift entziffern zu können. Es trug dieselbe Art Runen wie sie im Buch abgebildet waren, aber keines Falles ähnelten sie den meinigen.
»Das Liebste gehört nicht dir. Erst die Liebe, Freude und das Verständnis zu ihm macht es zu Deinem größten Schatz«, übersetzte er. »Das Beste: Du und Mina.« Er schaute mich strahlend an.
Es war das erste Mal, dass ich diesen Satz hörte und ich verspürte tiefste Zuneigung zu meinem Vater. Mina hatte Tränen in den Augen und Horan wurde knallrot, als würde er sich hier auf einmal sehr unwohl fühlen.
»Nun ja, da es offensichtlich keine Runenübersetzung für Ihre Inschrift gibt, wird es sich hierbei um einen Sonderfall handeln. Ich habe zwar noch nie von einem solchen Vorkommnis gehört, aber ich könnte mir vorstellen, dass es Ausnahmen gibt, bei denen die Inschriften erst im Laufe der Zeit entschlüsselt werden. Es tut mir leid James, ich kann Ihnen nicht weiterhelfen. Warten Sie ab, ob sich etwas ergibt«, sagte Horan schließlich und nahm das Runenbuch wieder an sich.
Fragend schaute ich meinen Vater an, er zuckte mit den Achseln und begann, in seiner Jackentasche nach etwas Bestimmtem zu suchen. Zum Vorschein kamen ein Personalausweis und ein zusammengerolltes Blatt Papier. Dieses legte er auf die überfüllte Theke und wartete, während Horan sie inspizierte, nachdem er sich eine Lesebrille aufgesetzt hatte. Es war üblich, das Icerotes nicht mit Geld zu bezahlen. Horan musste lediglich die Geburtsurkunde und den jeweiligen Ausweis der betreffenden Person zur Kenntnis genommen haben.
Der alte Mann starrte uns noch lange hinterher, nachdem wir seinen Laden verlassen hatten. Der Blick seines eingefallenen Gesichts hinter der verdreckten Glasscheibe verfolgte uns den steinernen Weg entlang, bis wir die Waldgrenze erreicht hatten und zwischen dem verkrüppelten Gestrüpp verschwanden. Das Laub knirschte unter unseren hastigen Füßen und als wir an einem dicken Busch vorbeieilten, hetzten wir einen Schwarm kleiner brauner Vögel auf.
Das Erste, das mir auffiel, als wir vor unserem Haus hielten, war der überfüllte Briefkasten. Er stand an der Ecke eines lang gezogenen Blumenbeets, worin Mina über den Sommer südliche Pflanzen hegte und pflegte. Nun, kurz vor Wintereinbruch waren die kostbaren Blumenzwiebeln mit tiefrotem Laub bedeckt.
Die Briefe waren alle an mich adressiert. Da gab es einen von Rosy Seem, Stev Finley und William. Zusammen mit diesen Dreien bildete ich einen unschlagbaren Freundeskreis. Auch Tante Lisa, die Frau des Bruders meines Vaters, hatte an mich gedacht. Und es gab noch einen Brief aus schwerem cremefarbenem Papier. Mit schwarzer Tinte war darauf geschrieben: An das neue Mitglied James Harrison, Fluglerstraße 10, Waldhusen. Der Brief kam aus Athen und wurde von einer gewissen RDA geschickt. Doch ich hatte schon eine Vermutung wer das sein könnte.
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