Diese endlosen Gespräche gaben dem jungen Mann den Eindruck, mehr zu lernen als in seinem ganzen Leben zuvor. Und sie machten ihm deutlich, dass er sein bisheriges Leben mit oberflächlichen Dingen verbracht hatte. Sollte jemals jemand ein Buch über Nats Leben schreiben, so musste dieser schon auf einen dicken Einband hoffen. Denn bei dem Wenigen, das er bisher im Leben geleistet hatte, würde es ansonsten ein sehr dünnes Buch werden.
Nebenbei erfuhr Nat auch mehr über den Auftrag, mit dem die drei Schiffe in Richtung der Fernen Insel aufgebrochen waren.
Rimmond ist die Hauptstadt der Menschen auf der Insel. Sie ist zwar deutlich kleiner als Arkadien, aber aufgrund ihre Lage an der Spitze einer felsigen Halbinsel fast unmöglich einzunehmen oder zu belagern. Das galt zwar auch für Arkadien, aber aufgrund seiner fernen Lage an der äußersten Westspitze der Insel, war sie für die Menschen Thorlands nur schwer zu erreichen. Von der Grenze zu Aventurien bis nach Arkadien war man mehrere Tage auf einem schnellen Pferd unterwegs. Damit war sie als Hauptstadt einfach nicht zentral genug.
Die drei Schiffe hatten jetzt den Auftrag nach Rimmond zu segeln und sich mit dem dortigen Statthalter in Verbindung zu setzen.
Wenn man einen Überblick über die Situation auf der Fernen Insel bekommen hatte, sollten die Schiffe zurück segeln in die Alte Welt und den König informieren.
Die Soldaten aber sollten sich durch Thorland auf den Weg machen und Arkadien und die anderen Städte der Menschen aufsuchen.
Wenn nötig sollten sie sich Unterstützung in Rimmond, aber auch bei den anderen Rassen erbitten.
Hierfür begleitete insbesondere Jargo diese Reise. Er sollte mit seinem diplomatischen Geschick und dem Einsatz überzeugender Magie die Hilfe der Elfen und Zwerge erreichen.
Bei den Barbaren verfehlte diese Art der Überzeugung in der Regel ihre Wirkung. Diese reagierten nur auf die Macht des Schwertes. Ihr derzeitiger Anführer Gronik war hier allerdings eine Ausnahme. Durch die Macht des Schwertes zum Anführer – Begriffe wie König oder Fürst kannten die Barbaren nicht – geworden, hatte er ein ausgeprägteres Maß an Intelligenz als die anderen Haudraufs seines Volkes.
Durch die Gespräche, die endlose Geduld die Jargo mit seinem Schützling zeigte und Nats Bedürfnis nach väterlicher Führung entwickelte sich in kurzer Zeit ein inniges Verhältnis zwischen den beiden Männern.
Auch Jargo nahm Nat an wie einen Sohn, bewunderte das Potential, dass dieser junge Mann hatte und freute sich genau so auf die langen gemeinsamen Stunden.
Es wurde aber auch schnell deutlich, dass Nat über gewisse magische Resistenzen verfügte, aber kaum Talent für das Erlernen magischer Fähigkeiten besaß.
Selbst einfache Übungen wie das Bewegen kleiner Gegenstände, das Anzünden einer Kerze durch Gedankenkraft oder das Heilen kleiner Wunden, die Jargo sich selber beifügte überforderten sein Talent.
Wenn er versuchte, eigene Verwundungen zu heilen, scheiterte er mit der Magie. Allerdings zeigte dann sein Körper besondere Fähigkeiten und kleinere Wunden schlossen sich in wenigen Momenten.
Jargo bat die Soldaten an Bord, Nat in Kampfesfähigkeiten zu unterweisen, aber die meisten verfügten nur über ausgeprägte Fähigkeiten im Kampf in der Formation. Gute Einzelkämpfer, die auch bereit waren mit Nat zu arbeiten gab es jedoch keine.
Hierfür fehlte auch fast die Zeit, weil Jargo und Nat Stunde um Stunde die Fähigkeiten trainierten, die Jargo unterweisen konnte.
Eines Nachts weckte Jargo seinen Schützling und führte ihn an Deck.
Dicke Wolken hatten sich vor den Mond und die Sterne geschoben und die Schiffslaternen an Bug und Heck stellten die einzigen Lichtpunkte dar.
Jargo sprach kurz mit den Wachen und nach kurzem Zögern drehten beide die Lampen soweit herunter, bis das Hauptdeck in totaler Finsternis lag.
„Jetzt kann es losgehen.“ Jargo nahm Nat an die Hand und führte ihn zu den Wanten an der Steuerbordseite. Er bewegte sich in der völligen Dunkelheit mit traumwandlerischer Sicherheit.
„Ich will, dass Du jetzt hier aufenterst, über die Takelage auf die Backbordseite wechselst und dann auf der Backbordseite wieder herunter kletterst.“
„Was?“ Nat sog zischend die Luft ein. „Das ist nicht dein Ernst. Ich kann nichts sehen. Wie soll ich dann durch die Wanten klettern. Ich werde abstürzen.“
„Dafür gibt es nur einen Grund. Nämlich, dass du deine Fähigkeiten nicht nutzt. Und das ist nicht akzeptabel!“
Er nahm Nats Hand und führte sie zu den untersten Seilen der strickleiterähnlichen Wanten.
„Ich erwarte, dass du spätestens beim dritten Mal schneller bist als bei deiner schnellsten Runde am heutigen Tag.“
Nat war am frühen Nachmittag in einem Tempo über die Takelage gestürmt, das selbst bei alten erfahrenen Seeleuten staunende Bewunderung hervorgerufen hatte.
„Drei mal. Ich werde beim ersten Mal zu Tode kommen!!!“
„Tss, tss, tss, ich will nichts mehr hören. Vertraue auf deine Fähigkeiten.“
Nat fasste das Seil fester und versuchte sich zu konzentrieren. Er kannte „den Weg“ wie seine Westentasche. Das musste doch zu schaffen sein. Eine langsame Runde. Dann eine Runde für mehr Selbstvertrauen. und zuletzt eine schnelle Runde.
Schneller als am Tag war natürlich unmöglich, aber das würde Jargo schon akzeptieren.
Er enterte die Wanten auf. Vorsichtig tastete er sich über die Seile, die von der Salzluft ganz hart waren. Angestrengt starrte er in die Dunkelheit, aber er konnte nur aus den Augenwinkeln das schwache Glimmen der Schiffslaternen erkennen. Hier oben herrschte vollkommene, fast übernatürliche Finsternis.
Jargo beobachtete seinen Schützling mit verschleiertem Blick. Die Aura um Nat war klein, schwach und unruhig flackernd. Kopfschüttelnd fluchte Jargo in sich hinein. Er nutzte seine Fähigkeiten nicht. Naja, das erhöhte vielleicht den Lerneffekt.
Langsam erreichte Nat die Höhe der Takelage. Das wurde ihm schmerzhaft deutlich, als er mit dem linken Ohr gegen die Rah stieß.
Seine Füße fanden das quer laufende Seil und mit den Händen stützte er sich auf das dicke Querholz und hangelte sich so rüber auf die andere Seite des Schiffes.
Zum Glück war die See ruhig, das leichte Krängen des Schiffes behinderte seine Bewegungen nicht.
Nach einigen Momenten hatte er die Backbordseite erreicht. Seine suchenden Füße fanden die Stricke der Wanten und vorsichtig kletterte er herunter, bis er wieder das Deck erreicht hatte.
Suchend tastete er um sich, bis Jargo seine Hände ergriff.
„Du nutzt deine Fähigkeiten nicht. Warum versuchst du zu sehen, du kannst mit den Augen nichts sehen. Es ist zu dunkel.“
Jargo drehte Nat um und legte seine Hände wieder auf die Wanten, diesmal an der Backbordseite.
„Nutze deine Fähigkeiten, die dir jetzt zur Verfügung stehen. Sehe ohne zu sehen. Und vor allen Dingen … sei schneller, viel schneller!“
Er gab Nat einen leichten Stoß.
Seufzend umfasste Nat die Wanten fester. Er versuchte sich zu konzentrieren, aber immer wieder merkte er, dass er die Augen weit öffnete.
Also los, jetzt galt´s!
Schnell enterte er die Wanten hinauf, ja er kannte eigentlich wirklich jedes Seil, jeden Handbreit, jeden Tritt.
Er erreichte die Rah und warf sich nach vorne, um über die Takelage zu laufen. Doch in der Dunkelheit hatte er sich verschätzt. Da wo er die Rah und das Seil der Takelage erwartete, war nur Leere.
Seine Hände griffen ins Nichts, mit einem Finger streifte er noch das Holz der Rah, dann stürzte er aufschreiend in die Tiefe.
Er ahnte das Deck auf sich zu rasen und verspürte seltsamerweise Bedauern darüber, dass er Jargo enttäuscht hatte. Dann traf ihn ein Luftstoß von unten und milderte seinen Aufprall. Dennoch schlug er hart auf, die Luft wurde ihm aus den Lungen gepresst. Mit einem Knacken brachen einige Rippen und seine Hand wurde durch den Aufprall regelrecht zertrümmert.
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