Nat atmete gepresst ein und alles drehte sich um ihn herum. Die Sterne, die vor seinen Augen tanzten waren das erste Licht, dass er in den letzten Minuten gesehen hatte.
Plötzlich spürte er Jargo neben sich.
“Du nutzt deine Fähigkeiten nicht.“
In der Dunkelheit konnte Nat Jargos verärgertes Gesicht nicht sehen, aber dessen Stimme ließ an seiner Wut keinen Zweifel.
Jargo legte seine Hände auf Nats Körper und murmelte einige Worte.
Wie eine warme Welle spülte ein Schauer durch Nats Körper, mit einem unhörbaren Knirschen richteten sich seine gebrochenen Rippen und die zertrümmerten Knochen seiner Hand.
In wenigen Sekunden wuchs zusammen, was zuvor scheinbar unrettbar verletzt worden war.
Mit einem tiefen Zug sog Nat Luft in seine gepressten Lungen. Kein schmerzhafter Stich fuhr ihm durch die Brust. Als er sich langsam aufrichtete blieb sein Blick klar. Die Sterne waren verschwunden, um ihn herum herrschte wieder undurchdringliche Dunkelheit.
Ein suchender Rundumblick und er entdeckte den matten Schimmer der beiden Schiffslaternen.
Langsam stand Nat auf und begab sich wieder zu der Stelle, wo er die Wanten vermutete.
- Du nutzt deine Fähigkeiten nicht. Sehe ohne zu sehen. - Verdammt es musste doch möglich sein.
Nat erinnerte sich an die vielen Übungen, die Jargo mit ihm gemacht hatte.
Er schloss die Augen, die konnten ihm ohnehin nicht helfen. Und die Hoffnung darauf raubte ihm nur die Konzentration auf seine anderen Sinne.
Er suchte Stärke, tief in seinem Inneren, seine Atmung beruhigte sich. Einige Augenblicke stand er völlig unbeweglich, dann trat er einen halben Schritt nach vorne, drehte sich leicht nach rechts und griff mit ruhiger Hand nach dem Halteseil der Backbordwanten.
Plötzlich war es für ihn völlig klar, wo die Seile der Wanten waren, er sah nichts aber er … wusste.
In der tiefen Dunkelheit zog ein Lächeln über Jargos Gesicht, durch den verklärten Blick sah er die starke blaue Aura, die, nur für ihn sichtbar, Nat in ihrem Licht erstrahlen ließ. Jetzt war es da, jetzt vertraute er sich seinen Fähigkeiten an.
Mit schnellen Griffen zog Nat sich auf die Wanten und enterte wie ein Affe die Seile hinauf. Er überstieg die Rah und anstatt sich in die Taue zu stellen und sich entlang zu hangeln trat er auf das etwa eine Hand breite Querholz und lief darauf entlang, als würde er bei strahlendem Sonnenschein über das Deck laufen. Dass es sich in völliger Dunkelheit fünf Mannshöhen über Deck befand hatte für ihn keine Bedeutung.
Geschickt umstieg er die Haltetaue, die die Rah und das eingewickelte Segel hielten und hatte in wenigen Momenten die andere Seite des Schiffes erreicht.
Ohne anzuhalten lief er über das Ende der Rah hinaus, packte mit einer Hand die Wanten und wurde von seinem Schwung in das Seilgeflecht hineingetragen.
Mit schnellen geschickten Sprüngen sauste er hinab und stand in kürzester Zeit auf dem Deck.
Jargo blieb ganz ruhig stehen und er spürte, wie ihm vor Stolz das Herz ganz weit wurde.
Mit ruhigen Schritten kam Nat auf ihn zu, trat in den Eimer, den der Schiffsjunge nach dem Schrubben des Decks offensichtlich hier vergessen hatte und knallte mit Gepolter aufs Deck.
Langsam schob der Wind die Wolken beiseite und gab den Blick frei auf das ruhig dahin treibende Schiff, den Magier, der sich vor Lachen den Bauch hielt und den jungen Mann, der mit nassem Fuß auf dem Deck saß und sich den schmerzenden Hintern rieb.
Sie waren gemeuchelt,
mit dem Tode entlohnt,
nur das Kind wie durch Zufall
vom Tode verschont.
„ Das Lied des Helden“ von Galfir Galbrandsson
Jargo lachte auf.
„Dieser Nebel ist wie das Meer.
Überall um uns herum ist nur Nebel.“
Da …, er hatte es wieder gespürt , wie einen Nadelstich, der ihm in die Kopfhaut fuhr.
Rrodrak, der Schwarzdruide warf das Fell ab und erhob sich von der Liege, auf der er in seinem Laboratorium ruhte.
Barfuss lief er über die rauen fleckigen Steine und rieb sich dabei die schmerzende Stelle am Kopf.
Es kam näher, die Schmerzen wurden stärker. Und immer nur für wenige kurze Momente, dann waren sie wieder verschwunden oder nur ein kaum merklichen Ziehen.
Ob das mit dem Schiff zusammenhing, dass sich aus der Alten Welt näherte?
Sein Spion aus Sylthana hatte ihm gemeldet, dass eine neue Expedition zum Fernen Kontinent ausgerüstet wurde. Sie hatten außerdem berichtet, dass ein hochrangiger Magier diese Expedition begleitete. Und ein Arbeiter an den Docks hatte gesehen, wie kurz vor dem Auslaufen der Schiffe noch eine über mannsgroße Kiste an Bord geschafft worden war.
Kurz danach hatten die Kopfschmerzen begonnen und Rrordrak war klar gewesen, dass dieses Schiff niemals das Festland der Fernen Insel erreichen durfte.
Da war etwas an Bord, das ihm … ja … Kopfschmerzen bereitete. Etwas, was ihm zu diesem Zeitpunkt äußerst ungelegen kam.
Nur noch wenige Umläufe und die Aktionen seiner geheimen Truppen würden den fragilen Frieden auf der Insel zerbrechen lassen.
In diese Unruhe würden seine Kämpfer hinein stoßen wie ein heißes Messer in die Butter. Außerdem würde dann noch eine weitere Kraft in den Kampf um die Insel eingreifen, von der die Völker noch gar nichts wussten. Ein Gedanke, der Rrordrak grinsen und erschauern ließ.
Rrordrak hatte bereits vor Jahren die Ferne Insel betreten. Mit einer früheren Expedition hatte er die Nebelinseln überwunden und sich auf der Insel ein neues Dasein aufgebaut.
Das war auch dringend nötig gewesen.
In der Alten Welt hätte man Rrordrak gehenkt, wenn man seiner habhaft geworden wäre.
Das Elend um den Schwarzdruiden begann bereits in seiner Kindheit.
Aufgrund seiner geringen Größe und seiner schmächtigen Gestalt hatte er immer als Prügelknabe für alle anderen Kinder herhalten müssen.
Kein Kind war bereit dem kleinen Wicht mit den tief liegenden Augen und der hohen Stirn beizustehen. Alle neuen Grausamkeiten die Kinder sich ausdenken konnten waren zunächst an Rrordrak ausprobiert worden.
Er durfte als erster ausprobieren, wie tief der neu ausgeschachtete Brunnen wirklich war, ob es schmerzte, wenn man vom Baum gestoßen wurde oder wie viele Kinder auf einem kleinen Körper stehen konnten, bevor Knochen brachen.
Rrordraks Mutter liebte ihren Sohn, aber sie hatte keine Möglichkeiten ihn zu verteidigen. Rrordraks Vater war in den Kriegen zwischen Sylthana und seinen Nachbarstaaten noch vor seiner Geburt umgekommen.
Seine Mutter flüchtete hochschwanger in die Ebenen Sylthanas, um vor weiteren kriegerischen Auseinandersetzungen sicher zu sein.
Da sie nichts mehr besaß, außer ein paar Kupfermünzen und dem was sie am Leibe trug, war sie froh, dass sie eine Arbeit in einer Taverne in Vrobana, nahe der Hauptstadt Sylthanas fand.
Ab dem Zeitpunkt seiner Geburt wurde Rrordrak wie ein Bastard, ein uneheliches Balg angesehen. Jeder durfte sein Mütchen an ihm kühlen, wenn seine Mutter versuchte dagegen aufzubegehren, wurde ihr deutlich gemacht, dass sie froh sein könnte hier in Sicherheit zu sein.
Ein anderes Schankmädchen aus der Taverne, die einzige Freundin, die Rrordraks Mutter auf der Welt noch hatte, sagte ihr immer wieder, dass Rrodrak diese Zeit überstehen würde und dann würde er stärker und härter sein als alle anderen und würde seinen Weg durch das Leben machen.
Aber auch dieses Kind brauchte sein Ventil, um seine Wut und seinen Schmerz los zu werden. Und so begann Rrordrak bereits im Alter von sechs Jahren damit, kleine und wehrlose Tiere zu quälen und zu töten.
Ausgelöst wurde dieser Drang, als er einen kleinen Vogel fand, der aus dem Nest gefallen war.
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