Ich sprach mit zwei weiteren Magiern unseres Ordens und bat sie darum, das Orakel nach zusätzlichen Anhaltspunkten für meine verzweifelte Suche zu befragen.
Dann tratst du durch die Tür und ich sah es sofort. Die Aura war sehr blass, dein Unwissen und deine Niedergeschlagenheit ließen sie nur noch flackern, wie eine Kerze im Wind. Und dennoch war sie da, es bestand kaum ein Zweifel.
Als ich dann hörte, dass du zum Tode verurteilte warst, also den Tode blicktest und dass sich niemand für dich eingesetzt hatte, du also nichts verlorst, war ich sicher, dass meine Suche ein Ende hatte.“
Jargo sah in Nats zweifelnde Augen, in den Ausdruck völligen Nichtverstehens.
„Ich weiß, dass es viel gibt, was Du jetzt zu durchdenken hast. Ich denke, es ist gut, wenn wir es zunächst dabei belassen. Wir haben noch viele Tage, um zu sprechen, um zu entdecken und zu erkennen.“
Er wandte sich zur Tür und riss sie mit einem schnellen Ruck auf.
Der Schiffsjunge, der an der Tür gelauscht hatte, taumelte in den Raum. Das vollgeladene Tablett hielt er nur mit viel Glück und Geschick in der Waage, ohne etwas zu verschütten.
Seine Augen waren weit aufgerissen und sein Blick irrte zwischen Nat und Jargo hin und her.
Jargo nahm ihm mit ruhigem Griff das Tablett aus den Händen und reichte es Nat.
Dann legte er dem Jungen eine Hand auf die Schulter. Die andere Hand fuhr einmal vor den Augen des Jungen hin und her. Dazu murmelte Jargo ein kurzes Wort.
Der Blick des Jungen wurde glasig, er drehte sich um und verließ auf steifen Beinen den Raum.
Nat sah erschrocken zu Jargo auf.
„Keine Sorge.“ Jargo ging zur Tür. „Der Junge wird nicht mehr wissen, was in der letzten Stunde war. Ansonsten ist ihm nichts widerfahren.
Jetzt iss und ruhe dich aus. In einigen Stunden werde ich dich holen und dann beginnen wir mit dem Unterricht.“
Die Tür schloss sich hinter ihm.
Noch einige Minuten starrte Nat auf die Tür, dann stieg ihm der Duft würzigen Brots und gebratener Eier und Speck in die Nase.
Sein knurrender Magen ließ alle Gedanken verstummen und mit Heißhunger stürzte Nat sich auf das reichhaltige Mahl.
Danach sank er erschöpft in seine Koje und war eingeschlafen, bevor sein Kopf das Kissen berührte.
Beim Erwachen blickte Nat in das grinsende Gesicht des Schiffsjungen , der ihm das Essen gebracht hatte. Das Grinsen war herzlich und der Schalk blitzte in den Augen des Jungen. Es war ihm nicht anzumerken, dass Jargo ihm vor wenigen Stunden einige kurze Augenblicke seines Lebens „genommen“ hatte.
Als der Junge sah, dass Nat die Augen aufschlug, trat er schnell einen Schritt zurück und deutet auf die offen stehende Tür.
„Der Zauberer wartet auf dich, er hat gesagt ich sollte dich wecken.“
Er ging zur Tür und rief im Rausgehen über die Schulter
„Er ist auf der Galion zu finden.“ Dann war er verschwunden.
Nat rieb sich den Schlaf aus den Augen, dann schlüpfte er in die Rehlederstiefel und begab sich an Deck.
Nach dem Stand der Sonne zu urteilen war es spät am Nachmittag, er hatte also etwa drei Stunden geschlafen.
Zügig überquerte er das Deck und stieg die sieben Stufen zur Galion, dem leicht erhöhten Vordeck am Bug des Schiffes hinauf. Oben stand Jargo, hatte die Arme wie ein Kreuz vor der Brust verschränkt und die Augen fest geschlossen.
„Setz dich, Nat. Wir beginnen sofort mit dem Unterricht.“ Er atmete noch mehrmals tief durch, dann ließ er die Arme sinken und öffnete die Augen.
„Was bedeutet …?“
„Schschscht, kein Wort.“ Jargo sah Nat streng an.
„Deine ersten Übungen werden darin bestehen eine Ordnung in deinem Inneren Ich zu finden. Nur in dir selbst kannst du immer wieder die Ruhe finden, die du brauchst um große Dinge zu tun.“
Er setzte sich Nat gegenüber und hob die Hand. Zwischen den Fingern pendelte eine Lederschnur, an der ein matt schimmernder, perlmuttweißer Stein mit einem großen Loch in der Mauer baumelte.
„Vielleicht kennst du andere Magier, Zauberer und wie sie sich immer nennen möchten, die dir einen solches Amulett vor die Nase halten und dich damit hypnotisieren wollen. Das sind alles Scharlatane.“
Jargo lieg das Amulett in seine Tasche gleiten und deutete mit dem Finger auf ein Astloch in der Reling, dass sich dunkel von dem sonnengebleichten Holz abhob.
„Dies ist alles was du brauchst. Dieser dunkle Punkt ist dein Fenster in die Unendlichkeit.“
Dann deutete er auf eine Stelle, an der ein Tropfen Spritzwasser in der Sonne glitzerte, danach auf ein mit Öl verschmiertes Tau.
„Oder dies, oder das, ganz egal. Alles was du brauchst ist ein Punkt an dem du dich verankerst, während deine Gedanken in dich hinein fallen und dort für Ordnung sorgen.
Deine erste Übung ist, in diesen Fixpunkt hinein zu blicken, bis du hindurch sehen kannst. Bis sich die Dunkelheit in diesem Punkt öffnet und du die Weite der Welt in diesem Punkt entdeckst.“
Die sonore, gleichförmige Stimme des Magiers drang immer schwächer an Nats Ohr. Sein Blick schien sich in das Astloch auf der Reling hinein zu bohren. Aber er sah nur ein Stück Holz mit einem Loch darin. Fehlte nur noch, dass gleich ein Holzwurm rausguckte und ihm die Zunge ausstreckte. Nat verstand den Sinn nicht. Auch wenn er in das Holz hinein starren konnte, darin war keine Weite. Was glaubte dieser Umhangträger in einem Stück Holz finden zu können? Nat grunzte verärgert.
Ein leises Lachen ertönte.
„Kannst du dich erinnern? Erinnern, dass ich dich fragte, ob du besondere Dinge erlebt hast, Dinge, die dir nicht erklärlich sind? Erinnern an eben diese Dinge?“
Nat ließ den Blick auf das Holz gerichtet. Wo sollte denn diese Frage hinführen?
„Du warst damals bestimmt noch ein Kind, als dir diese Dinge widerfahren sind. Für Kinder ist es leicht, die müssen sich nicht anstrengen, um Wege in ihr Innerstes zu finden. Das geht bei ihnen instinktiv. Aber mit dem Kind sein geht uns diese Leichtigkeit verloren und wir brauchen Anleitung auf dem Weg dorthin. Aus diesem Holz wird kein Holzwurm hervorkriechen und dich auslachen, es ist nur eine Tür in die Weite in deinem Inneren.“
Die Weite in seinem Inneren. An was für einen verrückten Spinner … verdammt, der konnte ja anscheinend seine Gedanken lesen.
Dieser alberne dunkle Punkt auf dem Holz …, kein Mensch auf den bekannten Welten konnte aus einem Punkt in … .
Nat spürte ein Ziehen hinter den Augäpfeln, so als würde er angestrengt versuchen zu schielen. Sein Blickfeld zog sich zusammen, blendete alles aus, was um ihn herum war. Sein Sehen konzentrierte sich immer stärker auf dieses Loch im Holz. Das Loch schien an Tiefe zu gewinnen, wie ein Höhleneingang in einem Berg, der zunächst nur ein großer dunkler Fleck auf einer Felswand war. Doch je dichter man heran kam, umso größer wurde das Loch, wurde tiefer. Man konnte die Hand hineinstecken, den Fuß oder ganz eintreten. Und noch weiter hinein, immer weiter.
Nats Blick wurde immer intensiver, fixiert auf ein fingernagelgroßes Loch im Holz. Er durchdrang das eine Handbreit dicke Holz und ergoss sich dann in eine endlose Weite.
Er sah nicht das Meer, dass ruhig und gleichmäßig unter dem Schiff vorbei zog.
Die Weite, in die Nat blickte hatte keine festen Farben, kein oben oder unten.
Sein Blick wurde immer tiefer in diese Weite gezogen, die Gedanken, die in seinem Kopf rasten, kamen zur Ruhe und sortierten sich in vielen inneren Kisten und Kästen ein.
Sein zunächst noch unruhiger Körper streckte sich, bis Nat hoch aufgerichtet aber trotzdem entspannt und ruhig da saß.
Jargo beobachtete ihn fasziniert. Noch nie hatte er jemanden getroffen, der innerhalb eines Augenblicks so tief zu sich selbst finden konnte. Er flüsterte eine geheime Formel und sein Blick verklärte sich.
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