„Jeff?“, unterbrach ihn Chang hastig. „Ich dachte, jemand anders würde das übernehmen.“
„Glaubst du, weil mir ein Fuß fehlt, bin ich dazu nicht in der Lage?“, fragte Jeff unwirsch.
„So habe ich es nicht gemeint“, verteidigte sich Chang.
„So ist es aber angekommen“, ärgerte sich Jeff. „Ich habe jetzt einiges vor mir. Aber ich werde lernen, mit der Prothese so zu leben, als wäre sie ein Teil von mir.“
„Jeff, reg dich nicht auf“, ging Frank dazwischen. „In unserem Vertrag steht, dass wir über alles offen und in Ruhe reden können. Okay?“
„Ich muss auf den Mond, Leute“, sagte Jeff plötzlich geknickt. „Das ist alles, wofür ich jetzt noch lebe.“
Überrascht schauten sie ihn an. Doch keiner sagte etwas.
„Ich kann gerne mit Jerry oben bleiben“, sagte Marco. Er fühlte sich wie immer bei Auseinandersetzungen unwohl und wollte die Situation beenden.
„Nein, Marco“, sagte Jerry entschlossen. „Du wirst auf den Mond fliegen. Aber nicht wegen Jeff, sondern wegen mir. Ich brauche in der Kapsel jemand, auf den ich mich voll und ganz verlassen kann.“
Das saß. Jerry konnte manchmal sehr direkt sein. Er wandte sich nun an Ali und Chang.
„Einer von euch beiden wird zusammen mit mir auf das Mutterschiff aufpassen. Zuerst will ich dich bitten, Chang, mit mir oben zu bleiben.“
„Mich?“ Chang presste die Lippen aufeinander. So nahe am Mond, zum Greifen nah, und dann nicht runter können? „Ali kann das genauso gut wie ich. Wir können auch losen.“
„Ali ist für die Raumanzüge und die ganze Dokumentation auf dem Mond zuständig. Und wie ich bisher sehe, bist du ziemlich ausgeglichen, vernünftig und vor allem bist du sehr schnell beim Lernen.“ Jerry verteilte Zuckerbrot und Peitsche. „Deshalb will ich dich im Mutterschiff haben.“
Chang starrte vor sich hin.
„Damit hab ich nicht gerechnet“, sagte er. Die Enttäuschung war ihm anzusehen. „Lass mir etwas Bedenkzeit.“
„Die kannst du haben. Aber steig jetzt nicht aus“, sagte Jerry. „Wir brauchen dich. Hier auf der Erde und später auch oben im Weltall.“
Dann sprang Jerry überraschend auf.
„Los, lasst uns endlich Fußball spielen.“
Jeff blieb sitzen und schaute ihnen mit etwas Wehmut zu. Nach ein paar Minuten gab es einen Handelfmeter und das Team lud ihn zum Mitmachen ein.
„Du kannst zwar noch nicht rennen wie ein Wiesel, Jeff“, sagte Frank außer Atem. „Aber den Elfmeter, den kannst du jetzt für mich versenken.“
„Meinst du das wirklich ernst?“, fragte Jeff ungläubig.
„Klar meint er das ernst“, rief Ali. „Stell dich hin und hau einfach drauf. So wie immer.“
Jeff ging auf seine Krücken gestützt langsam zum Elfmeterpunkt. Lange sah er den Ball an.
`Wie oft hab ich einen Elfmeter geschossen?´, überlegte er.
Bis vor wenigen Wochen hätte er nicht im Traum daran gedacht, so etwas Banales zählen zu wollen.
`Bestimmt hab ich schon hunderte Elfmeter geschossen.´
Ab heute würde er sich jeden Elfmeterschuss gewiss merken. Selbst überrascht ließ er seine rechte Krücke los und trat mit Wucht gegen den Ball, der an Jerry vorbei in die linke obere Ecke flog.
„Richtig gut, für einen Schuss aus dem Stand“, sagte Ali anerkennend.
„Anlauf nehmen kann ich noch nicht“, erwiderte Jeff wie zur Entschuldigung. „Aber das werde ich auch wieder lernen.“
***
Zum Jahresende war das Wetter mies und bescherte nur schlechte Laune. `Weiße Weihnachten´ erwartete in Florida sowieso niemand. Aber dafür sollte es wenigstens angenehmen Sonnenschein geben. Stattdessen war über die anstrengenden Feiertage der Himmel oft bewölkt, an einigen Tagen schüttete es wie aus Eimern. Und im Januar ging es mit dem Regenwetter weiter. Daher beschloss Jeff, das überfällige Treffen für Marcos Referat auf seinem Zimmer abzuhalten. Durch seinen Unfall war die gesamte Planung durcheinander geraten. Am ersten Samstag des Jahres würden sie sogar Ruhe haben, da seine Eltern mit Mel die Großeltern besuchen wollten.
„Gutes Neues“, begrüßte Jerry unten am Hauseingang Chang.
„Auch ein gutes Neues“, antwortete Jerry. „Heute bist du aber etwas spät dran.“
„Ich weiß. Aber ich musste noch zu Hause aushelfen.“
Zügig gingen beide nach oben, wo sie von den anderen empfangen wurden.
„Gutes Neues, Leute“, wiederholte Chang fröhlich. „Und wie geht es dir, Jeff?“
„Wenn ich es mir aussuchen könnte, dann sicher gut“, antwortete Jeff.
„Du machst ja Scherze“, lachte Chang. „Dann geht´s dir bestimmt prima.“
„Verteilt euch auf die freien Plätze, dann können wir loslegen“, schlug Jerry nach der Begrüßungsrunde vor. „Ist es in Ordnung, Jeff, dass ich heute das Treffen leite?“
Jeff hatte fast vergessen, dass die Frage kommen würde, obwohl sie sich vor einigen Tagen abgesprochen hatten.
„Ist okay, Jerry.“
„Wir treffen uns aus hier bei uns aus mehreren Gründen“, eröffnete Jerry ihre Versammlung. „Zum einen ist schlechtes Wetter, Mel ist nicht zu Hause, und außerdem kann Jeff zurzeit nicht gut laufen. Die neue Prothese kommt erst in zwei Wochen. Es ist eine Spezialanfertigung und bis Weihnachten hat es die Firma nicht geschafft.“
„Ich hab jetzt dreimal die Woche Reha“, erklärte Jeff. „Ich muss viel üben, damit die Muskeln aufgebaut werden. Vater hat mir im Keller den Trainingsraum hergerichtet. Aber die schwerste Übung ist manchmal, überhaupt dorthin zu kommen.“
Jeff schwieg und schaute herab auf sein linkes Bein, das jetzt ohne Prothese über dem Teppich baumelte. Seine Stimmung ließ erahnen, dass er noch etwas sagen musste.
„Ich wollte mich bei euch bedanken“, fuhr er fort und sah jeden an. „Für das Vertrauen das ihr zu mir habt.“
„Es wird gewiss gut gehen“, ergriff Chang das Wort. „Frank hat uns über Amputationen, Prothesen und wie es dann weiter gehen kann einiges erzählt.“
Frank nickte zustimmend.
„Es gibt doch so tolle Wunderprothesen“, sagte Ali und schaute zu Frank. „Wie hießen die noch mal?“
„Du meinst bestimmt die bionischen Prothesen“, sagte Frank.
„Genau die“, fuhr Ali fort. „Die sind gedankengesteuert und aus coolen Werkstoffen wie Titan und so. Bestimmt kriegst du eine Superanfertigung.“
„Vater ist auch in Kontakt mit Spezialisten vom MIT“, sagte Jerry. „Aber Jeff will das Thema erst angehen, wenn wir wieder vom Mond zurück sind.“
„Echt?“, wunderte sich Ali. „Warum nicht gleich?“
„Das würde zu viel Zeit kosten“, sagte Jeff. „Mir reicht vorläufig eine ganz normale Prothese.“
„Aber heute wollten wir auch wieder in Projekt M einsteigen?“, sagte Jerry, um das Augenmerk auf ihr Anliegen zu lenken. „Stimmt´s, Marco?“
„Äh, ja.“ Marco war etwas nervös. „Ich hab was vorbereitet.“
„Und wie ist dein Thema?“, fragte Jerry, obwohl er es kannte.
„Ähm, ganz allgemein `Leben im All´“, las Marco ab. „Mit den Schwerpunkten `Hygiene´ und `Körperpflege´.“
„Dann leg los, wir sind gespannt“, forderte ihn Jerry auf.
Marco fühlte sich nicht wohl, obwohl er schon viermal mit Jeff geübt hatte.
„Also, ähm“, räusperte er sich. „Jeden Morgen so um sechs werden wir geweckt. Das heißt zunächst raus aus dem Schlafsack, besser gesagt aus dem Schwebesack, sich die Astroklamotten anziehen und waschen.“
„Ist das nicht eher umgekehrt, zuerst waschen und dann anziehen?“, bemerkte Ali.
„Ist doch egal. Meinetwegen umgekehrt. Hauptsache der Astronaut mieft nicht.“
Marco war sauer, weil er gleich zu Beginn unterbrochen wurde. Ali war ihm sowieso immer zu vorlaut. Und da Marco nicht gleich weiter redete, ergriff Jeff die Gelegenheit für eine Frage.
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