„Ich glaube, er wacht langsam auf“, flüsterte jemand.
Jeff erkannte die Stimme seiner Mutter. Er wollte sich aufstützen, aber plötzlicher Schmerz zwang ihn, liegen zu bleiben.
`Was ist geschehen? Warum bin ich hier?´, fragte er sich.
Angelina ging zu ihm und streichte ihm zwei Haarsträhnen von der Stirn.
„Jeff, hörst du mich?“, fragte sie leise.
Neben Angelina erkannte Jeff das Gesicht seines Vaters.
„Wie fühlst du dich, mein Junge?“, fragte Igor.
Jeff schloss die Augen und wollte schlucken. Es ging nicht. Sein Mund war völlig trocken. Angelina stützte ihn und führte ein Glas Wasser an seine Lippen. Jeff wollte mit langen Zügen trinken, aber es war kaum Wasser im Glas.
„Du darfst noch nicht viel trinken“, sagte Angelina leise. „Wegen der Narkose.“
„Was ist passiert?“, fragte Jeff, nachdem er zwei Schluck Wasser genommen hatte.
„Du hattest einen Unfall und -“
Angelina versagte die Stimme, sie musste sich abwenden. Jeff fiel der letzte Sonntag ein.
`Ich war mit Jerry. Er war am Computer. Dann fuhr ich zum Fußballspiel von Ali. Da war ein Auto und dann ein Bus …´
„Hatte ich einen Unfall?“, fragte er leise.
„Ja, Jeff“, antwortete Igor. „Du bist von einem Bus angefahren worden.“
„Ich hab Schmerzen“, sagte Jeff. „Mir tut das linke Bein weh. Ist es etwa gebrochen?“
Sein Vater sah betreten zur Seite. Jetzt erst erkannte Jeff auch Jerry, links vorne am Bett. Jerry fuhr sich verlegen mit der rechten Hand über den Mund. Die Tür ging auf und ein Arzt betrat das Zimmer.
„Die Schwester teilte mir mit, der Patient sei aufgewacht“, sagte er und trat ans Bett. Igor machte ihm Platz.
„Ich bin Doktor Simon“, stellte er sich vor. „Wie fühlst du dich, Jeff?“
„Das linke Bein tut weh“, antwortete Jeff. „Eigentlich ganz unten, der linke Fuß.“
„Hm. Das sollte nicht wehtun“, sagte Dr. Simon. „Wir werden dir gleich noch eine Spritze geben.“
Dr. Simon schaute zu Jeffs Eltern und hüstelte verlegen.
„Weiß er schon …?“, fragte er leise, als er Angelinas verweintes Gesicht sah.
„Nein“, antwortete Igor heiser.
Dr. Simon wandte sich erneut Jeff zu.
„Ich muss dir etwas mitteilen, Jeff“, sagte er verlegen.
„Es ist doch nichts Schlimmes?“
„Nun, du hattest einen Unfall. Wir mussten operieren. Es ist … es war … dein Knöchel … er war stark gequetscht.“
Dr. Simon konnte die richtigen Worte nicht finden. „Wir haben alles versucht … aber wir konnten ihn nicht retten.“
Der Arzt schnaufte durch. Auch nach achtzehn Jahren Berufserfahrung als Unfallchirurg fiel es ihm nicht leicht, die ganze Wahrheit zu sagen. Besonders schwer war es, wenn die Patienten noch so jung waren.
`Der Junge ist kaum älter als mein eigener Sohn´, dachte Dr. Simon gerade.
„Was heißt das?“, fragte Jeff erregt. „Wann kann ich wieder gehen und Fußball spielen?“
Jeff hatte die Worte von Dr. Simon noch nicht erfasst.
„Ich weiß nicht“, antwortete der Arzt und schaute betreten zur Seite. „Wir mussten oberhalb des Knöchels amputieren. Es war nichts zu machen.“
„Mein Fuß ist weg?“, stammelte Jeff das Unfassbare.
Sein Hals schnürte sich zu und Tränen traten ihm in die Augen.
„Aber das geht nicht“, rief er verzweifelt. „Jerry, sag ihm, dass das nicht geht. Ich kann doch nicht …“
Jeff wollte sich aufstützen, sank aber auf sein Kissen zurück. Die Augen verschlossen fiel er tiefer und tiefer. Er wollte aufschlagen. Jetzt gleich. Sofort.
`Alles soll zu Ende sein´, dachte er, der Kummer verzerrte sein Gesicht. `Was wird jetzt aus Projekt M?´
Jeff drehte sich zur Seite, Tränen liefen über das Kissen und sickerten unter die Decke.
Angelina, Igor und Jerry sahen hilflos zu. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass Jeff sogleich heftig reagieren würde.
„Der Unfall ist sehr traurig, Jeff“, sagte Dr. Simon und berührte behutsam seine Hand. „Aber du hast überlebt und das ist das Wichtigste. Ich verspreche dir, wir werden eine gute Lösung für dich finden.“
Jeff zeigte keine Reaktion. Dr. Simon war sich sicher, dass er zugehört und verstanden hatte. Leise führte er Jeffs Eltern und Jerry aus dem Zimmer.
„Der Schock ist sehr tief“, erklärte er auf dem Gang. „Wir werden ihm noch eine Beruhigungsspritze für die Nacht geben. Dann schläft er wenigstens durch.“
„Ich bleibe bei ihm“, schluchzte Angelina. „Ich lasse ihn jetzt nicht alleine.“
Übernachtungen von Angehörigen im Krankenhaus waren eigentlich nicht gestattet. Aber Angelina gab nicht nach und Dr. Simon willigte schließlich ein.
Angelina verbrachte dann die ganze Nacht neben Jeffs Bett in einem Sessel. Ab und zu stand sie auf, sah ihn an, hielt seine Hand, berührte sanft seine Haare. Sie wünschte, sie wäre an seiner Stelle. Dieser Unfall hätte ihr passieren sollen, nicht ihrem geliebten Sohn. Am Morgen nach dem Frühstück verabschiedete sie sich schließlich übermüdet.
„Ich komme am Abend wieder, Jeff. Der Doktor hat erlaubt, dass ich auch außerhalb der Besuchszeiten kommen darf.“
An der Tür drehte sie sich um.
„Marco hat mich in der Nacht angerufen. Er will heute unbedingt vorbeikommen und dir ein neues Handy bringen. Ist das in Ordnung?“
„Ja“, antwortete Jeff gleichgültig.
„Gut, dann gebe ich ihm Bescheid.“
`Komisch´, überlegte Jeff. `An Marco hab ich bisher überhaupt nicht gedacht.´
***
Angelina war gegangen, kurz darauf erschien die Arztvisite. Dr. Connors, die rechte Hand von Dr. Simon, Dr. Sideropolis, eine junge Ärztin frisch von der Universität, und Schwester Josefa betraten Jeffs Zimmer.
„Wie geht es uns heute Morgen, hast du Fieber oder Schmerzen?“, fragte Dr. Connors.
Dr. Sideropolis blieb mit Jeffs Unterlagen im Hintergrund.
„Nein, Fieber hab ich keins“, antwortete Jeff. Die Krankenschwester nickte. Sie hatte am frühen Morgen die Temperatur gemessen. „Aber ich spüre immer wieder diese Schmerzen.“
„Gegen die Schmerzen wird dir Schwester Josefa etwas geben. Am Nachmittag sehe ich mir deinen Verband sehr genau an. Wir wollen, dass die Heilung gut verläuft.“
„Doktor!“, rief Jeff, als der Arzt schon an der Tür stand.
„Ja?“
„Ich wollte Sie nur fragen … was haben Sie mit meinem amputierten Fuß gemacht?“
Dr. Connors erschienen große Runzeln auf der Stirn.
„Ich möchte ihn noch einmal sehen“, erklärte Jeff.
„Wie bitte? Ich versteh nicht ganz.“
„Ich möchte meinen abgeschnittenen Fuß noch einmal sehen. Sie haben ihn doch nicht schon weggeworfen, oder?“, fragte Jeff aufgeregt.
„Nein“, antwortete Dr. Conners verlegen. „Er befindet sich in einem unserer Kühlschränke. Dort ist er gut aufgehoben.“
„Ich will ihn haben“, sagte Jeff auf einmal. „Ich möchte ihn bei uns im Garten begraben. Er ist ein Teil von mir und ich will immer wissen, wo er sich befindet.“
„Hm, das wird wohl ein bisschen dauern“, sagte Dr. Connors. „Schwester Josefa wird sich gegebenenfalls kümmern.“
Die Herausgabe von amputierten Gliedmaßen war nicht gerade erwünscht, aber legal und prinzipiell möglich. Auch war die private Einäscherung oder Beerdigung von amputierten Gliedmaßen erlaubt. Aber die Erledigung der Papiere war ein langwieriger Prozess, den die Ärzte gerne delegierten.
Etwas später am Vormittag wurden für Jeff ein Telefon, sein Handy war beim Unfall kaputt gegangen, und der Fernseher freigeschaltet. Das Telefon stellte er gleich stumm und den Fernseher machte er nach kurzem Herumprobieren wieder aus. Er wollte Ruhe haben. Das eigene Selbstmitleid reichte ihm im Augenblick vollkommen.
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