Ich schnitt mir etwas Brot und Käse ab, öffnete den Wein und kostete den Schinken. Draußen ging die Sonne unter. Ich saß in der Küche an dem alten Tisch, an dem ich mit meinem Vater so oft gesessen hatte, nachdem ich aus der Schule nach Hause gekommen war und er gekocht hatte. Ich sah ihn vor mir, wie er Obst und Gemüse schnippelte, Kartoffeln schälte, Eier oder Fleisch briet. Ich hörte seine Stimme, die nah und doch so fern war.
Plötzlich sprang Gustav auf meinen Schoß. Er war groß und schwer, schwarz, grau und rot getigert. Die Pfoten waren weiß. Vorne glichen sie weißen Pantoffeln und hinten hellen Stiefeln, aus denen rote Socken blitzten. Der Kater musterte mich mit seinen bernsteinfarbenen Augen und begann zu schnurren. Als es an der Tür klingelte, schubste ich ihn vom Schoß und öffnete. Draußen stand Frau Eberle.
»Ich wollte noch das Katzenklo zurückbringen und das restliche Futter für Gustav. Beides braucht er doch.« Ich bedankte mich, nahm die Sachen und schloss die Tür. Das Klo stellte ich ins Badezimmer. Dann ging ich in die Küche zurück, wo der Kater mittlerweile den restlichen Schinken und Käse gefressen hatte. Lang ausgestreckt lag er mitten auf dem Tisch und leckte sich das Maul. Ich räumte Brot und Butter weg, nahm mein Glas und die Weinflasche.
Im Wohnzimmer sah es ebenfalls noch so aus wie damals, als ich zu Hause gelebt hatte. Nur die Bücher hatten sich weiter vermehrt, vermutlich die Restbestände aus dem Laden. Ich setzte mich in den Ohrensessel, auf den Lieblingsplatz meines Vaters. Er stand vor dem Bücherregal, das an beinahe drei Wänden vom Boden bis zur Decke reichte. Ich legte meine Füße auf den Schemel und stellte den Wein auf das kleine runde Tischchen neben mich. Ich betrachtete das alte Sofa, auf dem eine hellgrüne Wolldecke lag. Davor standen ein halbhoher, runder, dunkler Tisch und zwei schwere Sessel, alles aus den dreißiger, vierziger Jahren. Seltsam, dass mein Vater nie das Bedürfnis gehabt hatte, sich von diesen alten Dingen zu trennen.
Ich nahm einen Schluck Rotwein und schaltete den Plattenspieler an, ohne darauf zu achten, was aufgelegt war. Wild und ungestüm tönte eine Art Fanfare. Gleich darauf setzte der Tenor ein: »Schon winkt der Wein im goldenen Pokale, doch trinkt noch nicht, erst sing ich euch ein Lied!«
Natürlich Gustav Mahler, der Lieblingskomponist meines Vaters. Vermutlich nach ihm hieß der Kater Gustav. Die Marotte, Haustiere nach Künstlern zu nennen, hatte mein Vater wohl nie abgelegt. Mahlers »Lied von der Erde«, unendlich dunkel, traurig und doch zugleich unwirklich, himmlisch schön. Ich lehnte mich zurück und lauschte.
Was war geschehen, dass mein Vater und ich uns so entzweit hatten? Er war doch kein übler Mensch. Ich hatte ihm viel zu verdanken. Als ich Kind war, hatte er mir Liebe und Respekt geschenkt. Später bezahlte er mein Studium, obwohl es ihm finanziell schwerfiel und wir bereits kaum noch miteinander sprachen. Und jetzt? Anscheinend hatten wir einander so tief verloren, dass er mir nicht einmal sagen wollte, dass er todkrank war. Warum eigentlich nicht? Wollte er mir ein schlechtes Gewissen bereiten? Sollte ich mich dafür schämen, dass ich ihn in all den Jahren und Jahrzehnten so selten besucht hatte?
Ich sprang auf, ballte die Hände in den Taschen meiner Cordhose, lief zum Fenster und zurück. Ich wollte mich nicht schämen! Sicher, so war es bequemer gewesen für mich. Aber die seltenen Besuche hatten uns beide geschützt. So konnten wir wenigstens die Illusion wahren, dass wir uns verstehen. Denn die räumliche Distanz hatte zwischen uns eine Nähe geschaffen, die es in Wahrheit schon lange nicht mehr gab. Jede Begegnung hatte das offenbart.
Am ersten Tag freuten wir uns noch, einander zu sehen, weil das Wunschbild, die Sehnsucht nach einer intakten Beziehung, der Trug überwog. Wir hatten, wenn auch oberflächlich, Themen, indem wir uns erzählten, was wir seit dem letzten Treffen erlebt hatten. Da ich natürlich nicht alles preisgab und im Alltag meines Vaters vermutlich kaum noch Neues geschah, war dieser Gesprächsstoff aber bald erschöpft. Am zweiten Tag begann dann das Schweigen. Spätestens am dritten fing einer an, den anderen zu provozieren.
Häufig war er es. Er machte irgendeine rassistische Bemerkung, indem er beispielsweise von »den kriminellen Ausländern« sprach, die »Deutschland überfluteten, die Sozialsysteme ausnutzten und endlich hinausgeworfen gehörten«.
Es lief dann stets der gleiche Film ab. Ich ging an die Decke, schimpfte ihn einen Rassisten, schämte mich für ihn und seine Haltung, was mich noch wütender machte, versuchte mich zu beherrschen, argumentierte mit Zahlen und Fakten. Er wiederum nannte mich naiv, was mich augenblicklich noch mehr ärgerte.
Nachdem ich diesen zerstörerischen Mechanismus durchschaut hatte, reiste ich, inzwischen seit vielen Jahren, stets am zweiten Tag ab, bevor uns das Schweigen wie Mehltau überzog.
Vielleicht aber hatte mich mein Vater nur schützen wollen, indem er mir sein Sterben verschwieg? Auch dieser Gedanke besänftigte mich kaum. Schließlich war ich kein Kind mehr, das man schonen musste. Allein in meinem Beruf begegnete mir oft genug der Tod.
Ich trank mein Glas leer. Ich spürte, wie der Wein anfing zu wirken, und goss mir gleich noch ein Glas ein. Vielleicht aber war es die Einsamkeit gewesen, die Gabe und die Last, Freude und Leid mit sich allein auszutragen, die meinen Vater verstummen ließ. So lange ich ihn kannte, hatte er nie über seine Gefühle, Ängste, Träume und Hoffnungen gesprochen. Nur damals, als ich Kind war, hatte er manchmal darüber geredet, wenn er von seiner Kindheit, der eigenen Jugend und dem Krieg erzählte.
»Ich weine viel in meinen Einsamkeiten. Der Herbst in meinem Herzen währt zu lang«, sang die Altstimme in Mahlers Lied. Plötzlich fühlte ich mich unendlich traurig und schlecht. Ich spürte eine Einsamkeit, wie ich sie bis dahin noch nie empfunden hatte. Ein Alleinsein, so tief und trostlos, das sich wie ein Faden durch das Leben meines Vaters zog und das ich so lange verdrängt hatte. Ich trank mein Glas in einem Zug leer. Mein Gehirn tobte wirr und wund. Irgendwann schlief ich im Ohrensessel ein.
*
Als ich wieder erwachte, dämmerte bereits der Morgen. Mein Mund brannte staubtrocken. Die Beine, auf denen Gustav ruhte, fühlten sich bleiern an.
Ich stand auf, schlürfte in die Küche und kochte Kaffee. Im Badezimmer stellte ich die Kanne und meine Tasse auf den Rand der Wanne und ließ Wasser ein. Ich zog mich aus und tauchte unter. Langsam weckten mich das warme Wasser und der heiße Kaffee. Ich überlegte, wie es jetzt weitergehen sollte. Klar war, zunächst musste ich einen Hospizplatz finden. Allerdings hatte ich nicht die geringste Ahnung, wie viele davon in Freiburg überhaupt existierten.
Nach dem Bad rasierte ich mich, putzte mir die Zähne und zog mich an. In der Küche klappte ich mein Notebook auf und tippte bei Google die entsprechenden Suchwörter ein. Die Ausbeute war dürftig. In der ganzen Stadt gab es nur ein einziges stationäres Hospiz. Da es inzwischen nach neun war, rief ich dort an.
Natürlich hätte ich ahnen können, dass so kurzfristig kein Platz frei war. Ich versuchte alles, erklärte den Notfall und bettelte sogar. Es half nichts. Die Stimme am anderen Ende blieb gleichermaßen freundlich, verbindlich und verwies mich auf das ambulante Hospiz. Es werde, gemeinsam mit Hausarzt und Pflegediensten, ein würdiges Sterben zu Hause ermöglichen und dabei nicht nur meinen Vater, sondern auch mich unterstützen.
Nachdem ich aufgelegt hatte, fühlte ich mich leer, erschöpft und konfus. Die beste, weil einfachste Lösung war gescheitert. Wie es nun weitergehen würde, wusste ich nicht. Ich trank den restlichen Kaffee, gab Gustav frisches Wasser und Futter. Ich selbst konnte nichts essen. Dann brach ich auf zum Krankenhaus.
Читать дальше