Klein und schmal lag er in seinem Bett, der Bauch dick aufgetrieben, die Augen fest geschlossen. Die Haut, gelb verfärbt, spannte über Kinn, Stirn und Wangen. Sein greises Gesicht, eingefallen, klar und scharf, glich einer unwirklichen Maske, die über Zeit und Raum erhaben schien, wie der Abdruck eines Menschen, der noch hier und doch schon fort war. Es war das Gesicht eines Sterbenden.
Ich griff nach der mageren Hand, spürte jede Faser und jedes Knöchelchen. Mein Vater blinzelte und schlug die Augen auf. Er sah und erkannte mich. »Du hier? Hast du nichts Besseres zu tun?« »Frau Eberle hat mich angerufen und mir gesagt, dass du im Krankenhaus bist.« »Die Adele? So eine Schwatzbase!«
Die Tür öffnete sich. Eine junge Schwester glitt fröhlich herein und brachte dem Mann im Nachbarbett Kaffee und Kuchen. »Ah, wann ist es denn so weit?«, fragte sie die Schwangere. »In drei Wochen.« »Na, dann alles Gute für die Geburt.« Sie drehte sich um zu uns: »Und der Herr Eppinger hat Besuch. Sind Sie der Sohn? Schön, dass Sie hier sind.« Leise bat sie mich, später ins Schwesternzimmer zu kommen. Laut fuhr sie fort: »Ihr Vater mag ja keinen Kuchen mehr und erst recht keinen Kaffee.«
Als sie ging, knurrte mein Vater: »Was hat sie dir ins Ohr geflüstert? Dass ich bald sterbe? Das hätte ich dir auch sagen können.« Verlegen entgegnete ich irgendetwas, das so belanglos war, dass ich es gleich wieder vergaß. Ungefähr eine halbe Stunde blieb ich neben ihm sitzen. Ratlos schwiegen wir uns an. Schließlich begann ich von der Fahrt, meiner Arbeit und meiner Tochter zu berichten, um dem eigentlichen Thema Sterben auszuweichen.
Ich war erleichtert, als ich mich endlich verabschiedete. »Ich habe mir drei Tage freigenommen. Morgen komme ich wieder.« Draußen auf dem Gang bohrte sich der Geruch von Krankenhauskaffee und Desinfektionsmittel in meine Nase. Ich schaute mich suchend um, entdeckte ein Schild »Schwesternzimmer« und machte mich auf den Weg, die Bitte der Schwester zu erfüllen. Sie selbst sah ich zwar nicht. Dafür traf ich eine ältere, ernst blickende Oberschwester, Hanna, laut Schild am Kittel.
»Sie sind der Sohn von Herrn Eppinger? Schwester Steffi hat mich bereits informiert, dass Sie endlich da sind.« Ich wolle doch bestimmt mit dem behandelnden Arzt sprechen, was ich bejahte. Sie führte mich zu einem jungen Oberarzt, der, was sein Alter betraf, beinahe mein Sohn hätte sein können.
Dr. Lenhard, so hieß er, klärte mich schnell und effizient über den Zustand meines Vaters auf. Leberkrebs im Endstadium, so lautete der klare Befund. Eigentlich hatten sie ihn bereits vor einem Monat zum Sterben nach Hause entlassen. Dort habe es jedoch an einer Rundumbetreuung gemangelt. Als sich der Zustand weiter verschlechterte, habe ihn der Hausarzt erneut ins Krankenhaus eingewiesen. Aber jetzt sei ich ja da, um mich um ihn zu kümmern, sodass er zum Sterben wieder heimkönne.
Ich war sprachlos. Von alldem hatte mein Vater nie etwas erzählt. Als ich zuletzt mit ihm gesprochen hatte, schien noch alles zum Besten zu stehen. So zumindest hatte es am Telefon gewirkt. Ich versuchte dem Arzt zu erklären, dass ich in drei Tagen wieder nach Berlin müsse, wo meine Arbeit auf mich warte.
Dr. Lenhard schaute mich schweigend an. Ich fühlte mich unbehaglich und begann unter seinem Blick auf meinem Stuhl hin und her zu rutschen. Er nahm seine Brille von der Nase und wischte sie mit einem Taschentuch. »Sie wollen also Ihren Vater hier sterben lassen, derweil im Hintergrund ›Deutschland sucht den Superstar‹ oder ähnlicher Müll läuft?«
Dieser Schlag mit der Moralkeule traf mich mitten in die Magengrube. Mir wurde übel. Ich versuchte nochmals, mit meinen Akten und Fällen zu argumentieren. Dr. Lenhard setzte seine Brille wieder auf und erhob sich. »Nun, Ihr Vater kann hier nicht bleiben. Sein Zimmer ist kein Ort zum Sterben, und extra Zimmer dafür haben wir nicht. Im Übrigen wünscht er sich, wie die meisten Menschen, zu Hause einzuschlafen. Wenn Sie ihn nicht heimholen wollen, besorgen Sie ihm wenigstens einen Hospizplatz. Viel Zeit bleibt nicht.«
Damit war das Gespräch beendet. Ich verließ das Krankenhaus und fuhr zur Wohnung meines Vaters. Dort, wo früher seine Buchhandlung war, gab es jetzt einen Weinladen. Durch das Schaufenster sah ich eine Frau, vielleicht Anfang, Mitte vierzig, mit haselnussbraunen kurzen Haaren. Anscheinend war sie die Inhaberin. Sie bediente gerade zwei Kunden, ein älteres Ehepaar.
Ich wendete meine Augen zur Klingel an der Haustür. Frau Eberle öffnete gleich beim ersten Läuten. Ich lief die Treppe hoch. Als ich vor ihr stand, rief sie: »Grüß Gott, Stefan. Du willst bestimmt den Wohnungsschlüssel holen. Wie geht es deinem Vater? Ich war gestern bei ihm. Da sah er nicht gut aus.«
Ich murmelte irgendetwas und wollte mit dem Schlüssel, den sie mir reichte, schon gehen. Doch da sagte sie: »Moment mal, ich habe noch was für dich.«
Sie verschwand kurz in einem Zimmer am Ende der Diele und kehrte mit einer Katze zurück, die sie mir in den Arm drückte. Ich war so überrascht, dass ich mich nicht dagegen wehrte.
»Das ist Gustav, der Kater deines Vaters. Nun, da du hier bist, brauche ich mich ja nicht mehr um ihn zu kümmern.« Ich stand für einen Augenblick regungslos da. Jetzt, mit dem Tier auf dem Arm, erinnerte ich mich dunkel, dass mein Vater eine Katze besaß.
»Frau Eberle, es tut mir leid, ich kann mich nicht um Gustav kümmern. Ich fahre übermorgen nach Berlin zurück. Können Sie ihn nicht behalten oder ins Tierheim bringen?« Frau Eberle schaute mich schweigend an. Ihr bis dahin freundlicher Blick verdüsterte sich. Sie strich sich eine Strähne ihres kinnlangen weißen Haares hinter das Ohr, kniff zunächst die Augen und dann den Mund zusammen.
»Auf keinen Fall!« Mit diesen Worten knallte sie die Tür zu. Ich zuckte zusammen. Der Kater wand sich in meinen Armen, sodass ich ihn fallen ließ. Ich dachte, dass sich das Problem so vielleicht von allein lösen könne, indem er einfach davonlief. Aber der Kater machte einen Satz zur Wohnungstür meines Vaters gegenüber. Dort setzte er sich auf die Hinterpfoten und begann sich zu putzen. »Also gut, Gustav. Dann komm rein. Wir werden schon eine Lösung finden.«
Ich schloss die Tür auf. Drinnen roch es sauer und abgestanden. Alle Räume waren aber aufgeräumt und blitzsauber. Eilig öffnete ich die Fenster. Der Kater lief in die Küche zum Kühlschrank. Der war zwar leer, doch im Schrank fand ich Trockenfutter, das ich in ein Schälchen füllte. Gustav schnüffelte kurz und wandte sich dann ab. Offenbar gab es bei Frau Eberle etwas Besseres zu fressen.
Ich verließ die Wohnung und ging in den Bioladen gegenüber. Dort kaufte ich Brot, Käse, Butter, Kaffee, Milch, etwas Obst und Schinken. Anschließend betrat ich den kleinen Weinladen in unserem Haus. Verstohlen musterte ich die Frau, die einem Kunden gerade mehrere Weine vorstellte. Sie trug ein dunkelgrünes Samtkleid, das sich eng an ihren Körper schmiegte.
Ich fand die Frau auf eigenartige Weise schön. Sie war klein und zierlich. Die kurzen Haare umrahmten weich das ovale, von Sommersprossen übersäte Gesicht. Das Besondere aber waren die Augen. Das eine grün und das andere grau, zogen sie mich in ihren Bann. Plötzlich konnte ich weder das eine noch das andere mehr loslassen.
»Sie wünschen?« Ihre Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Sie klang tief und melodiös, samtweich wie zwanzigjähriger Cognac. Sie sprach zwar Hochdeutsch, doch ihr Akzent erinnerte sowohl an die Schweiz als auch an Frankreich.
»Kennen wir uns?« »Nein, ich bin nur zu Besuch hier. Mein Vater hatte hier mal seinen Buchladen.« »Der Herr Eppinger? Dann sind Sie der Sohn? Wie geht es ihm? Frau Eberle hat mir erzählt, dass er wieder im Krankenhaus ist.«
Ich antwortete, zerrissen zwischen der Lebendigkeit, die sie ausstrahlte, und dem sterbenden Gesicht meines Vaters, an das mich ihre Frage erinnerte. Leicht benommen hörte ich, wie sie ihren Namen nannte: Miriam, Miriam Weil. Rasch kaufte ich eine Flasche Rotwein und kehrte in die Wohnung zurück.
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