„Ihr sitzt hier ja immer noch“, sagte sie überrascht und traute sich anschließend mit dem ganzen Körper in den Raum. Sie zündete Kerzen an, die zahlreich auf der hell gebeizten Anrichte standen, da es inzwischen an Tageslicht mangelte.
„Setz dich zu mir!“, befahl Cornelius verschlafen und schaufelte ein paar Kissen vom Kanapee, um für den notwendigen Platz zu sorgen.
„Habt ihr schon zu Abend gegessen?“, fragte Lisa besorgt.
„Nein, aber ich könnte …“ Cornelius bremste sich aus.
„Ich gehe runter und hole etwas herauf“, entgegnete sie und verschwand genauso schnell, wie sie gekommen war. Eigentlich hätte sie ihren Sohn nur ansehen müssen.
„Die Armenspeisung geht weiter … “, frotzelte Caroline in gewohnter Manier.
„Ja, wir sind arm dran, wenn wir Hunger haben … “, grinste Cornelius. Ich versuchte den Faden nicht zu verlieren und erzählte unbeirrt weiter.
Wenig später kam Johann Ludwig Kock nachhause und Josephine hatte sich zunächst wieder beruhigt. Allerdings sprach sie mit uns kein Wort mehr. Vater schaufelte völlig ausgehungert Josephines mit Speck angereicherte Gemüsesuppe in sich rein, und sagte nichts ahnend nach einiger Zeit:
„Leider habe ich schlechte Nachrichten für dich, Josephine. In der Commerzdeputation sprach man von Herrn von Bräsow. Es sickerte der Name des Schiffes durch, dessen Eigner er anteilsmäßig sein soll. Die Fregatte heißt Hellesand . Wohl wissend war es nicht mehr schwer herauszufinden, in welcher Absicht das Schiff unterwegs ist. Die Hellesand befördert Sklaven von der Guineaküste nach Westindien! Dein feiner Herr aus Mecklenburg ist lupenreiner Sklavenhändler! Was das bedeutet, brauche ich wohl nicht näher zu erklären, oder?“
„Nun fängst du auch noch an, Vater! Ihr habt euch alle gegen mich verschworen!“, platzte es aus meiner Schwester heraus, die sich nun erst recht in die Enge getrieben fühlte. Wutentbrannt verließ sie den großen Tisch der Diele und war am selben Tage nicht mehr zu sehen gewesen.
„Hast du denn nichts gewusst von alledem? Willst du dieses unmenschliche Handeln unterstützen?“, brüllte er ihr wütend hinterher, „wir können auch ohne das Leid der schwarzen Menschen aus Afrika unser Geld verdienen!“ Bald hatte er sich wieder beruhigt, und Hinrich fühlte sich verpflichtet, ihm noch den Rest der Misere zu erzählen.
„Nun müssen wir es dir sagen, Vater. Er ist auch in anderen abscheulichen Dingen unterwegs.“
„Sag schon, was macht Herr von Bräsow denn noch so?“
„Er schafft Weizen nach Preußen und außerdem versorgt er König Friedrich mit Waffen über unseren Hafen! Joswig hat die Ladung in Boizenburg gesehen, kurz vor der Verschiffung, die der Freiherr aus dem Hamburger Hafen dorthin schaffte“, erwiderte Hinrich.
„Und ihr habt ihm Joswig nachgeschickt?“
„Ja!“
„Jetzt verstehe ich zumindest Josephines heftige Reaktion. Nun, ich glaube, das Problem wird sich von alleine lösen. Oder rechnet ihr damit, dass der Kerl nochmals hier auftauchen wird?“
„Viel wichtiger ist doch jetzt Josephines Einsicht. Sie braucht Zeit darüber nachzudenken und ich hoffe, mit ein wenig Abstand zieht sie die Konsequenzen. Schließlich haben wir uns nur zum Wohl der Familie und aus moralischen Gründen in ihre Privatsachen eingemischt“, fügte ich beschämt hinzu. Ich ärgerte mich über unsere Unfähigkeit, ihr die Dinge nicht schmerzfrei beibringen zu können.
„Wenn Sklaven- und Waffenhändler sich unter meinem Dach bewegen, ist das keine Privatsache mehr, Caspar!“ Vater hatte unmissverständlich die Sache auf den Punkt gebracht. Dennoch hatten wir Josephine einem unzumutbaren Wortschwall ausgesetzt, der ihre Gedanken im Keim erstickte und sie zu manchen unüberlegten Sätzen veranlasste. Vater hatte immer vermieden, seine Tochter schlechter zu behandeln, als die beiden Söhne und so sollte es eigentlich auch bleiben.
Am nächsten Morgen war Josephine nicht mehr da. Später erhielten wir eine Mitteilung von ihr. Darin stand lediglich, dass sie geheiratet hatte und ihr neuer Name lautete: Josephine Freifrau von Bräsow. Ich habe dem nichts hinzuzufügen. Es erklärte sich alles von selbst. Natürlich haben wir alle Josephine vom ersten Tag ihres Fernbleibens vermisst. Ihre frohe Natur und ihre quirlige Lebensart erfüllten ab sofort nicht mehr die elterlichen Räume in der Katharinenstraße. Natürlich machten wir uns große Vorwürfe, weil wir ihr es nicht gerade behutsam beigebracht hatten. Zwar taten wir unser Bestes und das war einfach viel zu wenig, um unserer Schwester gerecht zu werden.
Lisa kam mit einem großen beladenen Tablett zur Tür herein, wie sie es schon unzählige Male vorher gemacht hatte, wenn wir hier oben verweilten. Cornelius saß plötzlich kerzengerade wie ein Zinnsoldat auf seinem Platz, doch auch Caros und meine Aufmerksamkeit soll fairerweise nicht unerwähnt bleiben. Es war schon sehr spät geworden und ich war mir ganz sicher, die Kinder hatten wirklich genug für heute gehört.
Lisa und ich gingen anschließend schlafen. Nochmals zog der Tag an mir vorbei. Die Tage, an denen ich bisher erzählte, vollzog sich etwas Besonderes. Caroline und Cornelius hatten einen Teil ihrer Familiengeschichte nun bewusst verinnerlicht. Ihre eigene Identität und ihre Prägung würden damit verbunden sein, und der nächsten Generation mit individuellem Anstrich weitergegeben werden. Wunderbar!
Wenige Tage später saßen wir nach getaner Arbeit wiederum auf dem Dachboden, weil noch längst nicht alles Wichtige erzählt worden war, was sich damals nach der Ankunft der Konstanze ereignete. An jenem Abend versuchte ich eingangs resolut meine Vorstellungen des Weitererzählens umzusetzen, weil ich das Gefühl hatte, mir liefen die Fäden auseinander.
„Kinder, die letzten Tage kamen immer öfter einzelne Fragen von euch, was mir erfreulicherweise euer Interesse zeigte. Deshalb sollte ich jetzt weiter erzählen, damit wir mit der Vergangenheit geordnet zu einem Ende kommen können.“
„Wie erging es Julie und Jacob?“, fragte Cornelius eifrig und Caroline stand ihrem Bruder um nichts nach:
„Und wie ging es mit Peter, Irina, Dr. Fabius, Alex, Maurice, Jean-Claude, Louis und Jean, den Dubois` und den anderen weiter, von denen du erzähltest, Vater?“
„Wenn du mir so wuchtig vor Augen führst, was ich noch alles erzählen muss, dann überlege ich mir es noch mal, Caroline!“
„Nein, nein. Du machst das gut. War nicht so gemeint. Lass dir Zeit. Womit fangen wir an?“
Mit leicht verwirrtem Blick suchte ich nach dem Anfang. Sie hatten mich nicht verstanden. Der Anfang musste das Resümee des zuletzt Erzählten sein.
Nachdem Jacob in Amerika als verschollen galt, eure Großmutter verstorben und Josephine aus unserem Leben verschwunden war, wurde es sehr still im Hause Johann Ludwig Kock. Der einzige Lichtblick zu diesem Zeitpunkt war die wieder erstarkte Verbundenheit zwischen Hinrich und mir. Lange suchten wir nach einem geeigneten Kontoristen, der Josephine ersetzen konnte. Die familiäre Lücke, die sie hinterließ, war freilich nicht zu füllen. Dann wurde Tante Konstanze mit Jost-Gunnar schwanger und schon bald sollte wieder ein wenig Freude einkehren und neues Leben in die Katharinenstraße einziehen. Sieht man von alledem ab, plagte mich seit der Ankunft des Walfängers nur ein einziger Gedanke: Wie können wir Jacobs unglückliches Schicksal und das seiner Freunde, die mit ihm verschwanden, noch zum Guten wenden? Sollten wir die Verschollenen einfach aufgeben? Nein! Nein und nochmals nein! Tante Nathalie und Onkel Clemens hatten inzwischen zurückgeschrieben. Sie waren sehr bestürzt und würden mich in meinem Vorhaben, etwas zu unternehmen, mit allen erdenklichen Mitteln unterstützen. Dieser Brief untermauerte mein Bestreben geeignete Maßnahmen zu ergreifen und half mir, mit dem Schuldgefühlen Lisa gegenüber, besser fertig zu werden.
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