1 ...7 8 9 11 12 13 ...24 „Dann habt ihr mit nur 26 Mann Besatzung das geschafft, wofür wir vorher 38 Seeleute beschäftigten. Alle Achtung, meine Herren, meinen Respekt!“ Während ich anerkennend fortfuhr, kam ein mit hoher Geschwindigkeit rasender Einspänner auf uns zugefahren. Ein nobler Herr mit übergroßem dunkelgrünem Dreispitz saß kerzengerade auf dem Kutschbock und verzog trotz aufkommender steifer Brise keine Miene. Die Leute sprangen panisch zur Seite, um nicht Opfer des rücksichtslosen Kutschers zu werden. Im Angesicht einer großen Menschenmenge musste der unbeirrte Herr im allerletzten Moment die Bremse seines Vehikels ziehen, um nicht Menschenleben zu riskieren. Niemand sonst, außer Johann Ludwig Kock, fuhr in diesem Tempo über den Kehrwieder. Wenn man meinen Vater darauf ansprach, entschuldigte er sich immer mit dem Hinweis, noch nie einen Unfall gehabt zu haben. „Wie gut, dass stets ein Schutzengel zugegen war“, hörte man meist darauf. Die potenziellen Opfer, die nochmals verschont blieben, schauten dann leidig in den Himmel, um den Herrgott zu preisen, weil er ihnen eine Prüfung auferlegte, die sie bestanden hatten.
„Kapitän Broder! Nicht weglaufen“, rief Johann Ludwig Kock. Der schlaue Fuchs mit Kapitänspatent wusste, warum er das Weite suchte, als er den Alten mit dem exorbitanten Hut sah. Kapitän Broder durfte nun seinem Auftraggeber alles noch einmal erzählen, nachdem Vater sein schwitzend nasses Pferd beruhigt hatte, was ihm einzig allein höchst merkwürdig vorkam und er gleich eine Krankheit des Tieres vermutete, statt an die Rennstrecke zu denken, die das Tier zurücklegen musste.
„Warum habt ihr den Walfänger mit dieser scheußlichen Farbe neu bemalt?“, fragte ich den Bootsmann Jan abseits des Kapitäns, der, wie ich hörte, auf der Rückfahrt auch einige bedeutende Arbeiten des 2. Steuermannes mit übernommen hatte. Jaspar war selbstredend zum Ersten aufgerückt, als der bisherige Steuermann Jan Behrens mit mir nach Neu Orléans aufbrach. Über des Bootsmanns Schulter sah ich, wie Vater und der Kapitän auf der Konstanze verschwanden. Doch natürlich nicht ohne das Entladen des Walfängers maßgeblich zu behindern.
„Die Frage nach der Farbe ist berechtigt und ganz einfach zu beantworten. Weil wir damit unsere Chancen erhöhten, vor den Briten unerkannt zu bleiben. Schließlich hatten wir auf der Hinfahrt fast einen Segler von ihnen versenkt.“
„Verstehe, Jan. Eine schlaue Maßnahme. Habt ihr dennoch Kontakt mit ihnen gehabt?“
„Zum Glück nicht, obwohl wir nach dem Walfang die viel befahrene Nordroute über den Atlantik wählten, weil sie eben die Kürzeste ist, und wir ganz normale Walfänger mit der hamburgischen Flagge sein wollten. Broders Plan sah vorher folgendermaßen aus: Sobald das unheimliche Knacken des Eises auf dem tauenden Sankt Lorenz zu vernehmen war, bereiteten wir uns auf die Abfahrt vor. Der Kapitän kam den Briten zuvor, indem wir die Ersten auf dem mit dicken Eisschollen beladenen Strom waren. Seiner Zeit hatte die Konstanze einen eisernen Steven erhalten, um den Eisschollen etwas entgegensetzen zu können. Und wir blieben stromabwärts 1000 Kilometer bis Labrador unentdeckt und unbehelligt. Mit der hamburgischen Flagge segelten wir in die Fanggebiete der Davisstraße und die Briten sahen uns als Walfänger, der wir nun mal waren - bis auf die neue graue Farbe - die uns einige respektlose Bemerkungen der anderen Walfänger einbrachte. Ziemlich gerissen vom Kapitän, was? Und nun sind wir zurück, Caspar!“
„Ja und wir haben einen Bootsmann, der nun auch navigieren kann!“
Ich klopfte ihm als Zeichen meiner Wertschätzung auf die Schulter und mir wurde in diesem Moment klar, dass wir verdammt gute Leute auf der Konstanze hatten. Alsdann richtete Jan sein Augenmerk auf die Waltranfässer, die unbedingt noch am gleichen Tag die Tranbrennereien an der Elbe erreichen sollten.
„Was meinst du mit „dem Schicksal von Jacob nicht abfinden“, Caspar?“, fragte Lisa mit leiser Stimme. Selbstverständlich wusste sie, dass ich nicht tatenlos zusehen werde, wenn es noch eine Chance für Jacob gäbe.
„Ich bin mir nicht sicher, was zu tun ist. Doch wir müssen Nachforschungen anstellen, Lisa. Schon für Jacobs Familie, Tante Nathalie, Antoinette und Onkel Clemens. Bedenke, Antoinette hat ihren Bruder noch nie gesehen. Auch von uns hat es in diesem Jahr niemand geschafft, nach La Rochelle zu fahren und dabei hatten wir mit Tante Nathalie und Onkel Clemens doch unseren Besuch so überschwänglich besprochen.“
„Da war deine Mutter noch nicht tot und es gab auch keinen Streit in der Familie, Caspar!“, antwortete Lisa mit fester Stimme. Natürlich hatte ich falsch argumentiert und sie wieder Recht gehabt.
„Das ist wahr. Doch dafür kann die kleine Antoinette nichts!“
Auch Konstanze und Hinrich eilten aus der Katharinenstraße herbei. Es ging auch ohne Rennkutsche und ohne kollabierendes Ross. Jacobs Schicksal betrübte sie ebenso wie uns alle.
Langsam löste sich die Ansammlung am Kehrwieder auf. Bald würde es die ganze Stadt wissen. Die verschollene Konstanze der Kocks war zurück! Vater fuhr mit Kapitän Broder und Steuermann Jaspar in seiner fliegenden Kalesche gemäßigt davon. Die letzten Waltranfässer wurden im atemberaubenden Tempo auf Fuhrwerke verladen, die in geordneten Kolonnen auf die Beladung warteten. Schnell hatte man die Apparatur in Gang gesetzt, die für die Weiterverarbeitung des Waltrans notwendig wurde, und in Hamburg immer noch eine Menge Leute beschäftigte. Die Letzten am Ort des Geschehens waren die allgegenwärtigen schreienden Möwen und ein übler stechender Geruch, der sich auch ohne Walfänger über dem Binnenhafen verteilte. Die Fleete der Stadt hatten wieder durch Versandung an Fließgeschwindigkeit eingebüßt. Die Kloaken der Stadt, die die zunehmende Bevölkerung schufen, missbrauchten das langsam fließende Alsterwasser als Transportmittel – bis zur Elbe. Entgegengesetzt fluten die Gezeiten der Nordsee die Elbe und befreien uns von Abwasser und Gestank. Wann werden die Ratsherren endlich die Gelder freimachen, die zur Entsandung der Fleete dringend notwendig waren?
Hinrich kümmerte sich schließlich um das graue hässliche Schiff, das den Namen seiner schönen Frau trug, und auch den Möwen nicht mehr genügte, nachdem die blutigen Spuren des Walfangs und mancher Happen ins Hafenbecken gespült worden waren, und längst neue Fischer mit ihren Fängen im Hafen auftauchten.
Ich wischte Lisa die letzten Tränen ab, und wir gingen wortlos heim. Sie zitterte noch immer. Nun gab es sehr viel zu überdenken. Lisa hatte wohl schon angefangen. Ich legte meinen weiten Rock um ihre schmalen Schultern. Auch ich bewegte mich auf wackligen Beinen. Eigene Gedanken, die uns die schockierenden Neuigkeiten von der Konstanze abverlangten, hielten uns noch eine Weile gefangen.
Der Maler an der Malerbrücke, die offiziell eigentlich Brooksbrücke hieß, hatte seine Arbeit beendet. Jeder Hamburger sagte wie selbstverständlich Malerbrücke, schließlich sah man meistens Künstler mit ihren Staffeleien von der malenden Zunft oder solche, die es werden wollten, wenn man sie überquerte. Der Maler jedenfalls, dem ich an jenem Morgen begegnete, saß wahrscheinlich in einem Hafenlokal und berichtete blumig von einem Verrückten, den er früh morgens auf der Brücke getroffen hatte. Wohl in der listigen Hoffnung, sein mit einer übertriebenen Geschichte angereichertes Bild zu einem höheren Preis verkaufen zu können.
„Meine großen Kinder, aufwachen! - Das war also die Ankunft unseres schrecklich grau gestrichenen Walfängers Konstanze in Hamburg. Es war damals ein großer Schock für uns, als wir von Jacobs Dilemma hörten. Ich lief zunächst voller Freude auf das Schiff zu und dann diese furchtbaren Nachrichten!“ Die Wechselgefühle waren schnell wieder präsent, als ich in die alte Geschichte hineinschlupfte. Ich schluckte sie mit dem restlichen Tee herunter, der inzwischen kalt und bitter geworden war.
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