Jessi hatte wohl geahnt, was geschehen würde, wenn er auf Naomi träfe. Daher war sie immer so vorsichtig gewesen und hatte sie ihm regelrecht vorenthalten. Dann war es aber doch geschehen und er hatte genau so reagiert, wie sie es befürchtet hatte und wie vermutlich jeder paarungsbereite Mann reagieren würde, wenn er einem Vollblutweib wie Naomi so nahe kommen könnte. Er war von dieser Frau sofort angetan. Naomi war das Licht, das die Motten erst anzog und dann verbrannte. Sie war ein ganz anderer Typ als Jessi. Deutlich größer, mit einem auffallenden Busen, einem dicken Hintern und stämmigen Beinen. Sie war bestimmt das Doppelte von Jessi, aber ihre Proportionen stimmten. Ihr Körper war üppig und sinnlich, dennoch attraktiv und aufsehenerregend und ihre Formen wurden durch das kurze, bunte Sommerkleid, das sie trug, sehr vorteilhaft betont. Der glatte Stoff schmiegte sich perfekt an diesen ausladenden Leib und modellierte jede Einzelheit, jede Kurve, jede Wölbung, jede Rundung. Ihr Gesicht war hübsch und durchaus attraktiv, wenn auch nicht so apart und ebenmäßig, wie das ihrer berühmten Namensschwester. Ihr Gesicht wies im Gegensatz zu dem ihrer Freundin, deutlich mehr negroide Züge auf, die Nase kurz, die Lippen voll, die Stirn hoch, war aber dennoch anziehend. Ihre Haut noch dunkler als die von Jessi, dafür hatte sie ihre Haare mittelbraun, an manchen Stellen sogar blond, gefärbt und trug sie im Rastalook, also zu zahlreichen Zöpfchen geflochten und mit kleinen bunten Bändchen versetzt. Sie hatte sich sehr dezent und geschmackvoll geschminkt, in einem Nasenflügel und einem Ohrläppchen glitzerten kleine Diamanten. Allerdings hatten ihre Augen, obwohl sehr lebhaft, nicht die Ausstrahlung von Jessis schönen Augen. Ihre langen, künstlichen Fingernägel waren mit aufwändigem Dekor bemalt und sie trug fast an jedem Finger einen Ring, aber die konnten nicht kaschieren, dass ihre Hände längst nicht so schlank und elegant wie die ihrer Freundin waren. Es waren eher Patschhände, die andauernd mit einem Handy spielten, das sehr teuer war, wie er an dem angebissenen Apfel schnell erkannte. Sie schien Geld zu haben, diese Naomi, und vermutlich war sie deswegen recht selbstsicher. Sie redete viel und laut, benutzte ständig vulgäre Ausdrücke und hatte durchaus Sexappeal, sogar viel Sexappeal, den sie offensiv einsetzte. In Verbindung mit dem zarten, erotisierenden Hauch eines vermutlich ebenfalls teuren Parfüms war sie für ihn höchst begehrenswert, ja geradezu unwiderstehlich. Er flog sofort auf sie ab.
Naomi war in fast jeder Hinsicht das Kontrastprogramm zu Jessi, diesem kleinen, zarten, schmächtigen, sanften Typ mit einer ausgeprägten, sozialen Ader. Jessi hatte ihm erzählt, dass sie neben vielen anderen Geschwistern, es waren acht oder sogar zehn, auch eine Zwillingsschwester hatte, die wenige Minuten älter war als sie. Bei dieser Lieblingsschwester wuchsen ihre beiden eigenen Kinder auf. Der Vater, ein Nichtsnutz und Herumtreiber, sie sagte „a no-good man and a dodger“, war abgehauen, als er die Nase von Familie voll hatte. Die Kinder, ein Junge und ein Mädchen, gingen bereits in die Schule und erhielten von ihrer Mutter dafür jeden Monat Geld und auch das Essen und die Kleidung mussten regelmäßig bezahlt werden. Sie musste viel arbeiten für diese Zahlungen, auch weil sie genau wusste, dass von diesem Geld nicht nur ihre Schwester, sondern auch einige andere Familienmitglieder profitierten. Doch niemand in der Familie, außer der Schwester, wusste, was sie in dem fernen Land eigentlich tat, womit sie das viele Geld verdiente, das so regelmäßig kam. Man glaubte, sie sei Sekretärin in einer großen Firma oder besäße eine Boutique mit Geschenkartikel oder würde in einem Hotel arbeiten. Sie äußerte sich nie klar, wenn sie gefragt wurde, aber letztlich interessierte das auch niemanden so recht, wichtig waren nur, dass das Geld kam und die Geschenke, die sie mitbrachte, wenn sie die Kinder besuchte oder ab und zu per Post schickte.
Naomi hatte dagegen niemanden, den sie glaubte versorgen zu müssen, obwohl sie ebenfalls aus Ghana stammte und obwohl sie natürlich auch Verwandtschaft hatte, Eltern, Brüder, Schwestern, ein ähnlicher Clan wie der von Jessi, aber keine eigenen Kinder. Sie hatte alle Kontakte zu ihrer Heimat abgebrochen und lebte nun schon längere Zeit in Deutschland, sprach ganz gut Deutsch und war mit dem Dschungel des hiesigen, alltäglichen Lebens bestens vertraut. Sie hatte gelernt, mit einer Kombination aus Bauernschläue und charmanter Unverfrorenheit, klarzukommen und sie hatte auch sehr schnell gelernt, wie man hier als Frau zu Geld kommen konnte, sogar zu recht viel Geld. Sie arbeitete hart und war gut in ihrem Beruf. Sie wusste sehr gut, wie man mit Männern umgehen musste, um sie um den Finger zu wickeln und ihnen das Geld aus der Brieftasche zu luchsen. Daher konnte sie inzwischen ein ziemlich anspruchsvolles Leben führen. Ihre Kleidung stammte nicht mehr aus den Second-hand-shops, wie am Anfang. Ein beträchtlicher Teil ihres Einkommens landete bei H&M oder in teuren Boutiquen. Ihr Make-up und ihre Nägel ließ sie sich regelmäßig in einem Studio gestalten und ihre Friseuse verdiente gut an ihr. Das waren Betriebskosten, denn eigentlich war sie recht geizig, sie gönnte sich nicht viel Extras und hielt ihr Geld weitgehend zusammen. Sie hatte ein fernes Ziel, auf das sie hinarbeitete. Ihre Sparsamkeit hatte sie veranlasst, eine Untermieterin in die Wohnung aufzunehmen, die für die Hälfte ihrer Wohnungskosten aufkam, weil sie eine Art Geschäftspartnerin war. Ein Landsmann hatte Jessi vermittelt, die nun seit einem knappen Jahr bei ihr wohnte und letztlich für sie arbeitete.
Jessi war ein braves Mädchen, das dummerweise in einem gar nicht braven Metier gelandet war. Sie hatte ihm einmal gestanden, dass sie ihrem Beruf nur höchst ungern nachging, dass sie Männer zwar nicht verabscheute, aber auch ganz gut ohne sie auskommen könnte. Die Sexarbeit war für sie kein Vergnügen, sondern eine Last und eine Notwendigkeit, nicht anders als das Schuften in einer Fabrik oder die Ausbeutung als Putzfrau, nur dass sie so viel mehr Geld verdiente. Es gab aber noch einen weiteren Grund, dass sie längst nicht so erfolgreich war wie Naomi. Sie war gut katholisch, ja eigentlich zu katholisch für das praktische Leben. Er hatte es schon am ersten Tag geahnt, als er das kleine Kreuz an ihrem Hals gesehen hatte, nachdem sie so unerwartet nackt vor ihm gestanden war. Sein Verdacht bestätigte sich, als er sie am Anfang ihrer Beziehung mit seinen negativen Ansichten über Gott, Glauben und Kirche nervte. Sie reagierte höchst pikiert und verärgert, sodass sie dieses Thema später geflissentlich mieden. Die Gebote der Kirche, denen sie einerseits folgen wollte, andererseits aus Gründen des Überlebens nicht konnte, waren der Grund, dass sie bei ihrer Arbeit permanent ein schlechtes Gewissen hatte. Dabei war sie eine moralische Person, ein guter Mensch, der niemandem etwas Böses zufügen konnte und auch nicht damit rechnete, dass ihm Böses widerfuhr. Doch inzwischen war sie mehr im realen Leben angekommen und hatte brauchbare Überlebensstrategien entwickelt. Aber ein Vollblutprofi wie Naomi würde sie nie werden.
Naomi war nicht nur wegen ihres Aussehens und ihres Lebensstils ganz anders. Sie war auf Männerfang aus, sie wollte Männer, sie war geradezu süchtig auf Schwänze, während Jessi sie notgedrungen akzeptierte. Naomi war egoistisch, unsensibel und von Religiosität, die sie in ihrem Beruf und in ihrem Begehren hätte hemmen können, war keine Spur vorhanden. Sie hatte Spaß zu ficken und tat das ausgiebig. Und das merkten die Männer rasch, die in das Hochhaus kamen, die meisten wollten spätestens beim zweiten Mal zu Naomi. Sie verdiente das Geld, sie bekam die Extrascheine in den BH gestopft oder in ihre Körperöffnungen gesteckt, sie hatte die Wohnung gemietet, sie erledigte alles, was zu erledigen war, sie regelte alles, was zu regeln war. Jessi war lediglich auch noch da, ganz nützlich in manchen Situationen, nützlich zum Zuhören, nützlich zum Kochen, zum Einkaufen, zum Aufräumen, zum Putzen und zu all den ungeliebten Nebenarbeiten. Sie war Zugehfrau, Küchenhilfe, Putzfrau und last, but not least, sie bezahlte die Hälfte der Miete. Und, auch das war wichtig, sie musste immer ran, wenn Naomi nicht wollte oder den Typ ablehnte.
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