Selbst etwas verwundert über seine Großzügigkeit, das Geld würde er sicher nie mehr zurück bekommen, nickte er ihr freundlich zu und murmelte „no problem“. Dann drehte er sich, den Blick nur zögerlich von ihr lassend, wieder dem Weinregal zu und suchte einen Riesling, der herb und zugleich süffig war. Das war eine nicht ganz einfache Angelegenheit, aber er hatte Glück und war rasch fündig. Nun ging er weiter zu den Milchprodukten, griff nach einem Viererpack Joghurt ohne Geschmack und einem Kefir. Auf dem Weg zur Kasse packte er noch zweit Tüten Kartoffelchips mit Zwiebelaroma in den Einkaufswagen. An der Kasse sah er sie wieder. Sie hatte schon bezahlt und wartete offensichtlich auf ihn. Als er sie bemerkte, lächelte sie ihm dankbar zu. In ihrem Wagen lag nicht viel, ein paar Tüten und Dosen, eine Plastikflasche mit Wasser und zwei Tetrapack mit dem besagten Orangensaft. Es war aber doch so viel, dass sie sich schwer tat, alles auf ihren Armen zu verstauen, als sie den Wagen zurück in die Reihe stellen wollte. Er sah, wie sie sich abmühte, und bot ihr scherzhaft an, ihre Sachen vielleicht lieber in seiner großen Einkaufstasche unterzubringen. Doch sie nahm das Angebot für bare Münze und ging sofort darauf ein. „Danke für Hilfe. Habe Geld und Tasche vergessen, wie dumm ich bin.“ Auf seine Frage, warum sie nicht einfach eine Plastiktüte kaufen würde, meinte sie bedauernd „No more money. Alles weg. I’ve spent all, you know.“ „Nicht einmal die paar Cent für eine Plastiktüte“, fragte er erstaunt. „No. No penny any more.“ Bei diesen Worten fühlte er sich an Auslandsreisen erinnert, wenn er vor dem Rückflug im Duty-free stand und seine letzten Münzen zusammen kramte, um noch einen billigen Kaugummi oder eine Tafel Schokolade zu erstehen. Aber das war eine völlig andere Situation. Er wollte ihr gerade anbieten, eine Tüte zu kaufen, als sie ihm zuvor kam. „Wenn Sie helfen tragen, ich gebe Geld zurück. Come with me to my place, you know.“ Sie wohne ganz in der Nähe, in dem Hochhaus da drüben, das man von hier aus sehen könne. Im achten Stock, fügte sie hinzu, als sie ihre Sachen in seine Tasche packte. Dann ging sie hinaus auf die Straße und er folgte ihr.
Das Hochhaus machte denselben verkommenen Eindruck, wie das ganze Viertel. An den Wänden prangten Schmierereien, im Flur standen Fahrräder und Kinderwagen. Zum Glück gab es einen Aufzug, klein und quietschend und ebenfalls mit Graffiti verschmiert. Als er die Tür aufzog, schlug ihm ein undefinierbarer, unangenehmer Geruch entgegen. Abgestandene Pisse vermutete er. „Achter Stock“, sagte sie, „aber das weißt du ja schon.“ Sie war spontan zum Du übergegangen, bisher hatte sie in ihrem schlechten Deutsch Sie gesagt. Er nahm die Gelegenheit wahr, seinen Namen zu nennen. „Jessica“, sagte sie darauf, „my name is Jessica. I am from Ghana. Call me Jessi. It is anyway not my real name. My real name is difficult for you. You can it neither pronounce nor remember.”
Im kleinen Flur der Wohnung herrschte ebenfalls Unordnung. Jede Ecke war belegt, mit Schuhen und Umzugskartons, mit einem prall gefüllten Mülleimer, mit Kleidern und Jacken, die an der übervollen Wandgarderobe hingen. In dem großen Spiegel begrüßte ihn das Bild eines verschwitzen, älteren Mannes mit Brille, schütteren Haaren und deutlichem Bauchansatz, der sich einen Moment neugierig selbst anschaute, dann weiter seine Umgebung musterte. Die Tür zum Bad stand offen und er sah auch dort dasselbe Chaos. Auf dem Fußboden Kleidungsstücke und Handtücher, in der Badewanne ein Wäscheständer voller Unterwäsche. Als Jessi sah, wie er einen freien Platz für die Einkaufstasche suchte, sagte sie entschuldigend „Freundin nicht ordentlich, große Schlampe“, und ergänzte, dass sie als Untermieterin, sie kannte das Wort, bei ihre wohne. Sie heiße Naomi und käme ebenfalls aus Ghana. Er solle die Sachen in die Küche bringen und irgendwo hinstellen, sie wolle rasch das Wohnzimmer aufräumen. In der Küche waren alle Ablageflächen mit Tellern, Tassen, Besteck, Resten von Lebensmitteln, Tüten, Konserven und allerlei sonstigem Kram belegt. Er musste einige Teller aufeinanderschichten, um den Einkauf zu deponieren. Jessi rief ihm derweil aus dem Wohnzimmer zu: „You have time for an orange juice or is mummy waiting for her darling?“ Sie lachte über ihren Witz, er auch, wenn auch etwas gequält und rief zurück „Ja klar, aber wenn schon, dann lieber ein Glas Wein“.
Er nahm die Flasche Riesling und die Chips aus der Tasche und ging in das Wohnzimmer. In der Tür stehend sah er zu, wie Jessi die letzten herumliegenden Gegenstände unter die Couch schob. Es war eine überdimensionale, blutrote Couch, die das kleine Wohnzimmer dominierte und nur wenig Platz für die dunkelbraune Schrankwand mit dem großen Fernseher in ihrer Mitte und den kleinen, gläsernen Couchtisch ließ. „Also dann trinken wir einen Schluck“, sagte er und fragte, ob es hier einen Korkenzieher gäbe. „Wir trinken nicht Wein. Wir brauchen keine, wie hast du gesagt, Krockenzieher.“ Er war einen Moment ratlos, aber es gibt auch andere Möglichkeiten, eine Flasche zu öffnen, ein spitzes Küchenmesser tut es auch. Der Riesling war warm, dazu schwammen Korkreste auf der gelblichen Flüssigkeit. Die Gläser, die sie aus der Küche geholt hatte, waren absolut unpassend, Kindergläser mit Mickymaus Dekor. Aber das alles war in diesem Moment nicht wichtig, obwohl er sonst ziemlich etepetete war und Wert auf Stil legte. Viel wichtiger war, dass diese seltsame, kleine Frau ihn gebeten hatte, noch zu bleiben und dass sie jetzt zusammen auf der Couch saßen und dass er seit einiger Zeit ein seltsames, leises Kribbeln im Bauch spürte, das um so stärker wurde, je näher sie sich kamen. Obwohl, von wirklicher Nähe konnte keine Rede sein. Sie saß an dem einen, er an dem anderen Ende und um anzustoßen, mussten sie ihre Arme gehörig ausstrecken. Aber das irritierende Kribbeln war da und um sich abzulenken und weil er Durst hatte, leerte er das erste Glas mit dem warmen Riesling auf einen Zug. Sie nippte nur. „Great.“ „Der ist zu warm.“ “No problem.“ Er schenkte nach und riss die Tüte mit den Chips auf. “Ich mag Chips.“ „Me too.“ „Trink doch, der Wein ist sehr gut, das kannst du mir glauben. War auch nicht ganz billig.“ „I prefer orange juice.“ Sie stand auf, holte sich eine der Packungen aus der Küche und ein weiteres Mickymausglas und goss die gelbe Brühe hinein. Das Gespräch plätscherte noch eine Weile dahin, ein Austausch von Belanglosigkeiten und Nettigkeiten, eine Aneinanderreihung von nichtssagenden Anmerkungen. Für eine ernsthafte Unterhaltung war es einerseits zu heiß und andererseits, was hätten sie auch ernsthaft miteinander reden sollen, es gab ja so gut wie keine Gemeinsamkeiten. Doch dann kam unvermittelt ihre Frage.
Danach lagen sie dicht nebeneinander auf der Couch, tranken die Flasche Wein leer, eigentlich trank nur er, aßen die Chips auf, eigentlich aß nur sie. Sie hatte den Fernseher eingeschaltet und verfolgte Videoclips. Er war nach dem Akt erschöpft und träge, döste vor sich hin und betrachtete den spärlichen Nippes in den Fächern der Schrankwand, ein paar afrikanische Skulpturen, ein Aschenbecher aus schwarzem Holz. Vor allem aber wanderte sein Blick immer wieder zu dem großen Bild, das hinter der Couch hing. Es war ein billiges Stück von der Art, wie sie in Kaufhäusern angeboten werden, jedoch kein röhrender Hirsch im Morgenrot und auch keine farbenprächtige Zigeunerin. Frauen waren jedoch schon abgebildet, zwei nackte, schwarze Frauen mit hochgetürmten Haaren und spitzen Brüsten, die sich gegenübersaßen und ihre Hände auf seltsame Weise ineinander verschränkt hatten. Das Bild war scheußlich, die Farben kitschig, die Situation total gekünstelt, die Gesichter und besonders die Hände höchst dilettantisch gemalt. Aber es erregte sein Interesse und nicht nur das. Er musste immer wieder hinschauen, besonders auf die spitzen Brüste. Nach einer Weile des stillen Herumliegens meinte Jessi, es sei besser ihre Freundin anzurufen und ihr zu sagen, dass sie noch ein Weilchen wegbleiben solle. „Dann haben wir mehr Zeit zusammen and we can do something together“, sagte sie als Begründung in ihrem witzigen Kauderwelsch aus Deutsch und Englisch. Auf seine Frage, ob es nicht ärgerlich für die Freundin sei, dass sie in ihre eigene Wohnung nicht kommen könne, wann sie wolle, meinte sie: „Nein, für Freundin egal. Ich manchmal auch warten, wenn Freundin Besuch. That’s normal, you know.“ Er fragte sich, was diese Absprache zwischen den beiden Frauen wohl zu bedeuten habe und ahnte schon die richtige Antwort.
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