Seine Frau hatte ebenfalls mit einigen permanenten, berufsbedingten Unannehmlichkeiten zu kämpfen. Ihr Klientel waren vor allem unerzogene, pubertierende Jugendliche, denen sie Tag für Tag gegenüber stehen musste und deren Aggressivität, gepaart mit Desinteresse, sie in Dauerstress versetzte. An diese Belastung hatte sie sich in all den vielen Jahren nicht gewöhnen können und es bestand auch keine Aussicht, dass sich daran etwas ändern würde, jedenfalls solange nicht, wie sie berufstätig war. Noch problematischer, wenn auch erst seit einigen Monaten, war die Sache mit ihren Eltern. Sie wohnten in einem Dorf in der Nähe und die Samstage verbrachte sie damit, für sie einzukaufen und zu kochen, meist für eine Woche im Voraus. Dann aßen sie zusammen und nach dem Essen half sie ihnen, all den Kram zu erledigen, den sie allein nicht mehr schafften und das war jetzt schon das meiste und wurde immer mehr. Schließlich fühlte sie sich auch noch verpflichtet, mit ihnen einen Spaziergang oder einen kleinen Ausflug zu machen, weil „die beiden sonst gar nicht mehr ihre Festung verlassen“, wie sie ihrem Mann erklärte. Für gewöhnlich kam sie erst am frühen Abend wieder zurück und war dann ziemlich erledigt. Von Zeit zu Zeit war auch er gefragt, wenn an Geburtstagen oder an manchen Feiertagen ein Besuch unumgänglich war oder wenn sein spärliches handwerkliches Geschick benötigt wurde. Aber das waren Ausnahmen und er war froh, dass seine Frau ihn nicht mehr anforderte. Zum Glück gab es auf seiner Seite kaum Verwandtschaft, nur eine entfernt lebende Cousine, der er regelmäßig zum Geburtstag und zu Weihnachten eine Karte schickte, sie hin und wieder anrief und nur alle Jubeljahre besuchte.
An Samstagen hatte er also ausreichend Zeit für sich und nutzte sie. Er fuhr meistens in die Innenstadt, erledigte, was zu erledigen war oder ließ sich auch nur in dem Menschenstrom der Samstagseinkäufer durch die Straßen treiben. Wenn er bei schönem Wetter keine Lust auf Stadt hatte, ging er am Fluss oder in einem Park spazieren. War es warm genug, radelte er gerne zu einem nah gelegenen Weiher, schwamm ein paar Minuten, legte sich die meiste Zeit aber nur auf die Wiese, hörte Musik mit seinem Handy, schmiedete Pläne, die er selten umsetzte und beobachtete die Menschen um sich herum, vorzugsweise Mädchen und Frauen in knappen Bikinis. Bei schlechtem Wetter fand er Vergnügen darin, einen Kinofilm im Nachmittagsprogramm anzusehen, die Chance, dass er dabei nicht einschlief, war deutlich größer, als bei einem Kinobesuch am Abend. Wenn kein interessanter Film lief, besuchte er schon mal ein Museum oder in eine Ausstellung. Die Beschäftigung mit Kunst war eine der wenigen Interessen, die er noch pflegte. Mittags aß er eine Kleinigkeit, wirklich nicht viel, denn der Samstag war der Abnehmtag, meistens in einem Schnellimbiss oder in der Nordsee, er liebte Fisch und alles, was aus dem Meer kam. Seine Samstage waren weder aufregend noch aufwändig noch abwechslungsreich, sie waren so, wie sein Leben. Sie entsprachen seinem Naturell, waren die Folge seiner latenten Lethargie des Privatlebens, die in deutlichem Kontrast zu der im Beruf geforderten hohen Aktivität stand. Aber er ging immer aus dem Haus, ob das Wetter nun gut oder schlecht war, allein wollte er nicht daheimbleiben. Allerdings war er aber auch außer Haus allein. Seine Lethargie zeigte sich auch in einem Mangel an Kommunikation. Er besaß keine Freunde, mit denen er sich hätte regelmäßig treffen wollen und er suchte auch keine. Ihm reichte der tägliche Umgang mit den Arbeitskollegen und die gelegentlichen gemeinsamen Besäufnisse zum Abladen der permanenten Frust, die, wenn überhaupt freitags nach der Arbeit stattfanden und regelmäßig den Zorn seiner Frau hervorriefen, die allerdings weniger Angst um seine Gesundheit als um seinen Führerschein hatte. Er war sich also meistens selbst genug. Gegen Abend kehrte er nach Hause zurück. Manchmal war er früher daheim, manchmal seine Frau. Sie aßen dann gemeinsam zu Abend und tauschten die Erfahrungen und Erlebnisse des Tages aus, das heißt, eigentlich redete nur sie, um ihren angesammelten Frust loszuwerden. Er steuerte meist nur ein paar Stichworte zur Unterhaltung bei. Auf Nachfrage sagte er dann, dass es so wie immer gewesen sei. Doch seine Frau fragte selten nach, sie war zu sehr mit ihrem eigenen Kram beschäftigt. Bei diesem geregelten Programm war es kein Problem für ihn, Jessi in den Ablauf der Samstage einzubauen. Von ihr erzählte er seiner Frau natürlich nichts.
Er traf Jessi regelmäßig bei einem Italiener in ihrer Nähe zum Mittagessen. Beide mochten Spaghetti und frische Salate. Er schätzte es, immer in demselben Restaurant zu essen, weil seine Frau italienisches Essen nicht mochte und so keine Gefahr bestand, dass der Kellner sich in ihrer Anwesenheit nach der netten piccola negra erkundigen könnte. Das „Adria“ gehörte zu der beruhigenden Routine fester Gewohnheiten, die sich in ihrer Beziehung sehr rasch eingestellt hatte. Diese Routine wurde auch in dem nachfolgenden Tagesprogramm beibehalten. Er fuhr mit Jessis in eines dieser Einkaufszentren am Stadtrand, eine Örtlichkeit den seine Frau nie aufsuchen würde. Dort bummelten sie durch die Geschäfte und er erledigte, was er zu erledigen hatte. Jessi ging gerne mit, denn für sie fiel immer eine Kleinigkeit ab: ein T-Shirt, Kosmetika oder eine Packung Pralinen. Manchmal, wenn er gut drauf war, bekam sie sogar etwas Größeres: Unterwäsche, was eigentlich überflüssig war, weil sie selten etwas darunter trug, schon eher eine schicke Bluse oder ein paar Schuhe. Und einmal, an ihrem Geburtstag im Oktober, war er besonders großzügig und schenkte ihr eine Perlenkette, die in einem Juwelierladen gerade im Angebot war. Sie war über dieses Geschenk so begeistert, dass sie die Kette gar nicht mehr ablegen wollte und auch er fand den Kontrast der weißen Perlen zu ihrer Schokoladenhaut sehr apart. Wenn sie nicht einkaufen gingen, gab es bei schönem Wetter eine Spritztour in die Umgebung und bei Regen Kino oder ein Museum. Im Kino saß Jessi ganz still neben ihm und verfolgte den Film, obwohl sie, wie sie ihm gestand, nur wenig von dem mitbekam, was geredet wurde. Sie begleitete ihn genau so gern in ein Museum. Sie liebte Museen, allerdings nicht das, was dort ausgestellt war, sondern das Gebäude, die Räume, die Ruhe, die langweilige Behaglichkeit. „Hier alles sauber und schön und ruhig, viel ruhig. Man nicht muss essen, nicht muss trinken, nur sitzen. Du sehen Bilder, ich sehen dich, wie du sehen Bilder. I like it, you know.” Das Museum bot ihr etwas, was sie sonst nicht hatte, ein angenehmes, entspanntes, ruhiges Zuhause.
So gegen drei oder vier, je nach Programm, begann der Höhepunkt des Tages. Sie gingen in das Hochhaus und hatten Sex auf der roten Couch. Es gab natürlich auch ein Schlafzimmer, aber das war tabu, das war die unbedingte Privatsphäre der beiden Frauen. Die Tür war immer zu, er vermutete sogar abgeschlossen. Er hatte es in der ganzen Zeit seiner Besuche nicht einmal betreten. Sex im Badezimmer blieb außen vor, wie auch alle andere Experimente oder Extravaganzen. Ihr Sex war im Grunde genommen einfallslos und lief immer nach dem gleichen Schema ab: Ein wenig variantenreiches Vorspiel, etwas gegenseitiges befummeln und herum lecken an den intimsten Stellen, niemals richtige Küsse, dann ein kurzer Höhepunkt, fast immer in derselben Stellung, der konventionellen Missionarsstellung oder auch mal von hinten, aber immer nur in die richtige Öffnung. Dem Akt folgte dann eine lange Ausruhephase, obwohl sich beide gewiss nicht übernommen hatten. Ihr Liebesleben war rasch zu einer eingespielten Routine gelangt. Sie mussten sich nichts beweisen und wollten nichts Neues erforschen. Nur einmal machte er etwas Ungewöhnliches. Er hatte eine kleine Digitalkamera mitgebracht und schoss ein paar Bilder von der Wohnung, von ihr und von sich beiden, wie sie nackt auf der Couch lagen. Er streckte die Kamera mit der einen Hand so weit wie möglich von sich weg, die andere hatte er um ihre Schulter gelegt. Jessi, die sich eng an ihn schmiegte und mit ihren Armen und Beinen umklammert hatte, musste den Kopf gehörig verrenken, um auch in die Kamera blicken zu können. Er drückte ein paar Mal ab, die Bilder waren zwar scharf, aber dennoch schlecht. Er schauten reichlich dämlich in die Kamera, Jessi war etwas entspannter, ihr Blick, wie immer, süß, aber die Perspektive war dämlich, das ganze Bild war zum Wimmern. Es sollten Andenken an die schönsten Momente in seinem derzeitigen Leben sein, das sagte er ihr jedenfalls. Er ahnte nicht, dass sich genau diese Bilder als ziemlich verhängnisvoll erweisen sollten.
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