Karl musste in die erste Etage zum Sozialarbeiter. Er hoffte etwas Geld zu bekommen, um sich das Nötigste zu kaufen. Wieder musste er warten, bis er an der Reihe war. Er kam eben als Bittsteller und das hieß kleine Brötchen backen, sich angepasst zeigen, die Voraussetzungen mitbringen. Er hatte sich den Weg für einen Neuanfang leichter vorgestellt. Als er das Büro betrat, saß zu seiner Überraschung eine Frau mittleren Alters am Schreibtisch, die ihm freundlich Platz anbot. Sie machte einen souveränen Eindruck, als wolle sie sagen, ich weiß was du brauchst. Karl erzählte, was er dringend benötigte und bat um Hilfe. Die Frau, schlank und dunkelhaarig, machte sich auf einem Block Notizen. Am Handgelenk trug sie einen Goldreif mit einem goldenen Taler. Karl sah fasziniert, wie der Taler hinter der schreibenden Hand mitgezogen wurde. Karl glaubte die Frau in einem Blumengarten zu sehen.
„Herr Hent“, die Frau schaute etwas irritiert auf ihren Bittsteller, der ihr anscheinend nicht zuhörte. „Macht es Ihnen etwas aus, mir zu sagen warum Sie in Haft waren?“
„Entschuldigen Sie, ich war in Gedanken. Ich habe zwei Jahre und sechs Monate wegen Landfriedensbruchs und Widerstand gegen die Staatsgewalt eingesessen. Eine vorzeitige Entlassung auf Bewährung habe ich abgelehnt, weil ich mich mit Auflagen nicht frei fühlen kann. Sie war nicht einfach diese Entscheidung, aber ich habe das durchgezogen.“
„Ich glaube das gerne, Sie erhalten von mir 50 DM als Soforthilfe und ich gebe Ihnen für drei Tage Essensmarken. Sie müssen sich morgen beim Arbeitsamt arbeitslos melden und Arbeitslosengeld beantragen.“
Karl bedankte sich, nahm das Geld und suchte sein Zimmer. Wie konnte so ein tolles Wesen in so einer Institution arbeiten?
Auf dem Flur stank es nach Schweißfüßen und kaltem Zigarettenrauch. Die Wände waren verdreckt, mit obszönen Sprüchen versaut, die man notdürftig beseitigt hatte. Otto hatte sich aufs Bett gelegt, als Karl das Zimmer betrat.
„Na, hast du etwas erreicht?“, fragte er und ließ seine Beine auf dem Etagenbett hin und her baumeln. Karl setzte sich auf einen Stuhl und spielte mit seinem Geldschein.
„Kennst du die Sozialarbeiterin hier im Haus?“, fragte er und schaute nach oben.
„Du meinst wohl den Engel vom Josefsheim, so nennt man diese Bleibe hier. Sie ist Spanierin, lebt schon Jahre in Deutschland. Sie gilt bei den Obdachlosen als Engel. Sie ist sich ihres Aussehens bewusst und kokettiert durchaus damit. Diesen Job macht sie schon lange, holt für ihre Leute einiges aus dem großen Topf. Es gibt also auch Menschen, die für ihre Mitmenschen etwas tun und nicht nur reden.“
Karl überlegte und dachte, wie kommt ein Mensch wie Otto in so eine Lage? Die schwarz-weiße Sichtweise war dann doch nicht passend. Er musste Otto sagen, warum er im Gefängnis war.
„Ich bin kein Eierdieb, ich war mit der Führung unseres Staates nicht einverstanden, habe mich mit der Polizei angelegt, bin ordentlich von den Bullen verprügelt worden und habe mir eine Anzeige wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt und Landfriedensbruch eingehandelt. Ich sage dir das, weil ich glaube, es ist besser zu wissen mit wem man es zu tun hat.“
Auf dem Flur war es ruhiger geworden, die Beiden gingen in den großen Essraum, um etwas Warmes in den Bauch zu bekommen. Es ging laut her, der Kampf um die besten Fernsehplätze. Sie waren von den Dauergästen längst in Beschlag genommen. So genannte Aufseher standen in den Ecken, um im Bedarfsfall einzugreifen. Für Karl und Otto war klar, dieses Männerheim war kein Dauerzustand. Sie kannten sich zwar erst einige Stunden, aber in vielen Dingen waren sie einer Meinung. Sie waren keine Penner und wollten es auch nicht werden.
Am nächsten Morgen ging Karl zum Arbeitsamt. Er war relativ früh und meldete sich an der Pforte. Wieder saß er auf dem Flur und es hieß warten. Karl fragte sich was schief gelaufen war, in seinem bisherigen Leben. Er kam zu dem Schluss, nichts war schiefgelaufen. Er war schon in jungen Jahren am politischen Geschehen interessiert, er hatte immer den Eindruck, dass Wenige entscheiden und dass Wenige viel haben. Warum war das so? Er hatte einiges an Literatur zu diesem Thema gelesen in Verbindung mit den politischen Geschehnissen der letzten hundert Jahre. Eine passende Antwort hatte er nicht gefunden. Wir leben in einer freiheitlichen Gesellschaft und diese Freiheit kommt immer denen zugute, die sie politisch, wirtschaftlich und für persönliche Vorteile immer wieder missbrauchen und gut damit leben. Ja, und da hatte der kleine Karl etwas getan, was er nicht durfte. Er hat sich die Freiheit genommen zu laut zu demonstrieren und einen Polizisten mit Milchgesicht und blödem Getue eins in die Fresse zu hauen und ihn und andere Polizisten große Arschlöcher zu nennen. Das war natürlich gar nicht artig und deshalb saß er jetzt hier auf dem Arbeitsamt und musste warten.
Die Selbstgefälligkeit der Sachbearbeiter, ihre Gleichgültigkeit, die gelangweilten Mienen, beschäftigen mit immer mehr Papierkram, war von einer Arbeitsvermittlung weit entfernt, da es ja sowieso keine Arbeit gab. Karl empfand es als einzige Demütigung. Männer, Frauen, Junge, Alte, Dicke und Dünne sie alle hofften, dass in ihrem Sinne entschieden würde. Jeder hoffte, wenn die Tür aufging, dass sein Name gerufen wurde. Es war öde und langweilig, ab und zu schob ein Mitarbeiter einen Aktenwagen in die einzelnen Büros. Das zeigte, dass jeder Wartende für die Bürokratie auf einen Aktenordner reduziert war, mit großem und kleinem Inhalt. Dauergäste gehörten schon zum lebenden Inventar und wurden entsprechend behandelt. Bei all diesen Überlegungen hätte er beinah seinen Namen überhört.
Im Grunde war Karl sauer über das Prozedere. Bevor der Sachbearbeiter etwas sagen konnte, hielt Karl ihm seinen Entlassungsschein unter die Nase. Der Typ nahm ihn, überflog ihn, drehte ihn um und legte ihn vor sich hin. Er benutzte seine Schreibmaschine wie ein Klavier, lehnte sich nach getaner Arbeit auf seinem Bürostuhl zurück und sagte: „Herr Hent, wie lange haben Sie als kaufmännischer Angestellter gearbeitet?“
„Es waren zehn Jahre.“
„Haben Sie die zehn Jahre durchgehend bei einem Arbeitgeber verbracht?“
„Ja, ich hatte nur diesen Arbeitgeber.“
„Ich weiß nicht, was Sie ins Gefängnis gebracht hat, aber da Sie vorbestraft sind ist es für mich schwer Sie zu vermitteln.“
„Ich habe also keine Chance mehr in meinem Beruf zu arbeiten?“
Karl hatte die Frage so gestellt, als wüsste er bereits, was ihm der Mann sagen würde.
„Nun ja, es wird nicht einfach werden. Selbst eine untergeordnete Arbeit kann ich nicht anbieten, weil ich sie einfach nicht habe. Ich brauche eine Verdienstbescheinigung.“
Er griff in eine Schublade, holte die passenden Unterlagen, legte sie auf den Tisch und händigte sie einzeln seinem neuen Kunden aus.
„Die Bearbeitung wird ein paar Tage dauern, deswegen muss ich Sie bitten, die Bescheinigung, vom Arbeitgeber ausgefüllt, umgehend herein zu bringen.“
„Ich bin mittellos und brauche eine finanzielle Überbrückung.“
„Sie bekommen einen Barscheck von 150 DM, der Ihnen in kleinen Raten vom Arbeitslosengeld abgezogen wird.“
Karl war freundlich gestimmt, weil ihm so unbürokratisch geholfen wurde. Karl, mit allen Unterlagen versorgt, fuhr mit der Straßenbahn ins Männerheim. Wie am Vortag gab es wieder eine Warteschlange, aber da es zügig ging, war er bald in seinem Zimmer. Otto lag im Bett und schlief. Er war besoffen und zwar ordentlich. Karl schaute sich um und dachte, dieses Dreckloch kann man auch nur im Suff ertragen. Er hatte sich einige Sachen für Körperpflege, Tabak und Zigaretten gekauft. Otto hatte ihm geraten seine Sachen immer mitzunehmen und Wertsachen am Körper zu tragen und nachts unter dem Kopfkissen zu verstauen. Die Schränke und auch die Zimmertüren ließen sich nicht abschließen. Die Männer sollten sich gar nicht erst wohnlich einrichten. Die Einrichtung war eine reine Schlafmöglichkeit.
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