»Ah, da sind Sie ja «, riss eine Stimme William aus seiner Betrachtung. Er fuhr herum. Ein Duplikat des Männerbildes, beide Hände ausgestreckt, trat ihm forsch entgegen. William konnte nicht anders, als ihm ebenfalls beide Hände zu reichen.
»Herzlich willkommen in Berlin, lieber Herr Euskirchen. Ich bin Jakob Reichenbach«, stellte sich der Mann vor. »Es ist mir eine Ehre, den Bruder unseres Nachbarn und Freundes begrüßen zu dürfen.«
Friedrich wohnte also in diesem Haus. Reichenbach schien seine Gedanken zu erraten.
»So lange Ihr Bruder in Paris weilt, sind Sie natürlich unser Gast. Wir muten Ihnen nicht zu, alleine in seinen Räumen zu wohnen. Die liegen eine Etage höher.«
In seinen Räumen? Offenbar wohnte Friedrich komfortabel. In seiner Erleichterung fiel ihm erst nicht auf, dass ihn Herr Reichenbach musterte.
»Das ist interessant«, murmelte der. »Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen seltsam vorkommen mag. Sie sehen Ihrem Bruder sehr ähnlich. Davon hat er mir nichts berichtet.« Reichenbach dachte kurz nach. »Ach, ich Dummkopf! Wie konnte er, wenn er Sie doch seit Jahren nicht gesehen hat.«
Das Frauenportrait trat nun leibhaftig herein. William entging nicht, dass sie ihn eindringlich inspizierte. Die Nasenflügel der Frau bebten wie bei einem Wolf, der Witterung aufnahm. Ihr Blick verharrte auf seiner Kleidung, wanderte dann zu seiner Narbe und verweilte dort. William trug eine Leinenhose, ein Baumwollhemd und Stiefel. Er hielt alles für zweckmäßig. Ihm behagte nicht, gemustert zu werden. Das erinnerte ihn an die Sklavenmärkte im Süden der Vereinigten Staaten.
»Hedwig, das ist der junge Bruder unseres Freundes Friedrich Euskirchen«, stellte Reichenbach ihn vor. Die Angesprochene schloss ihre Musterung ab und begrüßte ihn ebenso herzlich, wie es zuvor ihr Mann getan hatte.
»Sie kommen passend zum Essen«, sagte Frau Reichenbach mit flötengleicher Stimme. »Ruhn, unser Diener, wird Ihnen Ihr Zimmer zeigen. Ich lasse Ihnen auch frisches Wasser bringen.«
Der Diener geleitete William in einen langen Flur, von dem weitere Türen abgingen. Am Ende lag sein Zimmer. Ein Bett mit weißem Linnen-Bezug stand gleich hinter der Tür, daneben ein Schreibtisch sowie ein Stuhl mit hoher Lehne. Auf dem Tisch stand eine Öllampe. Die andere Wand bedeckte ein wuchtiger Kleiderschrank. Die Lücke zwischen Schrank und Wand, zur Tür hin, ließ gerade noch Platz für seine Seekiste, die jemand dort bereits abgestellt hatte. In der anderen Ecke ragte ein Kanonenofen in die Höhe.
Der Diener zog sich zurück. Gleich darauf klopfte es an der Tür.
»Herein«, rief William.
Ein rothaariges Dienstmädchen brachte eine Keramikschüssel mit dampfendem Wasser. Sie stellte die Schüssel auf den Tisch und legte ein Handtuch daneben.
»Vielen Dank«, sagte William und starrte auf den Nacken des Mädchens. Rote Haare, wie Sarah, seine ehemalige Verlobte. »Du suchst das Abenteuer, ich die Beständigkeit«, hatte sie zu ihm gesagt.
»Wenn Sie einen Wunsch haben, dann ziehen Sie an der Kordel«, sagte das Dienstmädchen und deutete auf eine Schnur, die neben dem Türrahmen herabfiel und oben durch die Wand verschwand.
»Das werde ich tun«, sagte William in der festen Absicht, diese Kordel niemals anzufassen. Ihm waren bereits in Sarahs Elternhaus dienstbare Geister begegnet, und er hatte nur da, wo es unvermeidlich war, auf sie zurückgegriffen.
Das Mädchen machte einen Knicks und ließ ihn allein.
William schüttelte die Gedanken an Sarah beiseite, trat an den Tisch und blickte in das glasklare Wasser in der Emaille-Schüssel. Er hob das Handtuch auf. Ein Rasiermesser rutschte heraus und er bekam es gerade noch zu fassen, bevor es auf der Tischplatte aufschlug. Die ebenfalls eingewickelte Seife fiel indes auf den Boden. Er hob sie auf, roch daran und rümpfte die Nase. Dann klappte er das Rasiermesser auf. In der Klinge konnte er sein Spiegelbild betrachten. Das mit dem Rasieren konnte warten, entschied er zunächst, erinnerte sich aber daran, wie ihn die Dame des Hauses gemustert hatte. Ihr würde es bestimmt nicht gefallen, wenn er unrasiert zum Essen erschien.
Er seifte sein Gesicht ein und zog Bahn um Bahn die Klinge kratzend über seine Haut. Anschließend schöpfte er mit beiden Händen Wasser und wusch die Schaumreste weg. Dann nahm er das Handtuch und rieb sein Gesicht trocken. Die Narbe an der Stirn tupfte er vorsichtig ab. Das Tuch war weich. Eine Wohltat. Als er fertig war, legte er alles neben die Schüssel und trat in den Flur. Ruhn erwartete ihn.
»Hier entlang«, sagte er.
William folgte dem Diener. Im Speisezimmer saßen die Reichenbachs bereits an den Stirnseiten eines langgezogenen Tisches einander gegenüber. In der Mitte war für ihn eingedeckt. Er setzte sich. Ruhn nahm an der Seite Aufstellung, verschränkte seine Hände auf dem Rücken und blickte starr geradeaus.
Ein Dienstmädchen in weißer Schürze kam herein und stellte eine Suppenschüssel auf den Tisch. Die Dame des Hauses nahm eine Stoffserviette, die kunstvoll gefaltet neben dem Teller gestanden hatte, breitete diese aus und legte sie auf ihren Schoß. William tat es ihr gleich. Ruhn trat vor, hob den Deckel und schöpfte in die Teller.
»Es ist heute ein Alltagsessen«, sagte Frau Reichenbach an William gewandt.
Er nickte. Für seine Verhältnisse schien ihm die Schüssel riesig. Im Waisenhaus wären daraus zehn oder mehr Kinder verköstigt worden. Ihm wurde mit einem Mal bewusst, wie hungrig er war. Er griff nach dem Löffel und sah verstohlen zur Dame des Hauses. Die aß sehr bedächtig. William passte sein Tempo an. Als Hauptspeise wurden auf silbernen Tabletts gebratener Fisch und goldgelbe Kartoffeln gereicht.
»Ihr Herr Bruder«, begann Hedwig Reichenbach, »ist in den Salons der Stadt ein gern gesehener Gast.« Sie tupfte mit der Serviette Soße von ihrem Mund.
»Ich weiß nicht viel über ihn«, antwortete William.
»Da könnte ich Ihnen eine ganze Menge erzählen …«
»Was wir aber Friedrich selbst überlassen wollen«, unterbrach Jakob Reichenbach seine Frau.
»Wir selbst leben ein zurückgezogenes Leben«, sagte Frau Reichenbach. Minutenlang durchbrach nur das stete Geklapper des Geschirrs das Schweigen, was William recht war.
Das rothaarige Dienstmädchen bediente ebenfalls am Tisch. Sie sah ihn neugierig an, immer mit einem Seitenblick auf die Dame des Hauses. Ruhn reichte Getränke. William nippte vom angebotenen Wein, trank aber hauptsächlich von dem Wasser, das in einer Glaskaraffe bereitstand und das ihm immer sofort nachgeschenkt wurde, wenn er sein Glas leergetrunken hatte.
»Wenn Sie mir in das Herrenzimmer folgen wollen«, bat ihn Jakob Reichenbach, nachdem sie gegessen hatten.
Ein Feuer loderte im Kamin. An den Wänden hingen dutzende Bilder. Alle wiesen in der unteren linken Hälfte ein rotes F als Signierung auf.
»Ihr Bruder ist ein eifriger Maler«, sagte sein Gastgeber.
William betrachtete die Bilder nacheinander. Sie zeigten Männer in Paradeuniformen, Frauen in weiten Röcken und mit tiefen Dekolletés. Dann entdeckte er sich selbst. Zumindest schien es William, als betrachte er sein Spiegelbild.
»Ja, das ist Friedrich. Jetzt können Sie mein Staunen verstehen. Es ist frappierend, wie ähnlich Sie ihm sind«, sagte Reichenbach.
William trat näher an das Bild heran. »Allerdings hat er ein paar graue Strähnen.«
»Ihren Bruder, fürchte ich, werden Sie noch eine Zeit lang entbehren müssen. Ganz Paris will portraitiert werden, schrieb er in seinem letzten Brief. So haben Sie ausreichend Zeit, die Stadt zu erkunden. Berlin wächst wie ein Hefeteig. Bald werden eine halbe Million Menschen hier leben.«
»Finden denn alle ausreichend Arbeit und Lohn?«, fragte William.
»Derzeit leider nicht. Borsig, die Maschinenfabrik, die unter anderem Lokomotiven baut, musste wegen fehlender Aufträge einen Großteil der Arbeiter entlassen.«
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