»Gebe Gott, dass er stets auf unserer Seite steht«, murmelte er.
***
Eleonore legte ihre Stickerei zur Seite und blickte aus dem Fenster hinunter in Richtung der Stadt. Sie liebte die Aussicht. Besonders am Abend, wenn die Dämmerung einsetzte, der Himmel sich erst dunkelblau und dann schwarz verfärbte. Ganz Stuttgart breitete sich vor ihr aus. Gaslichter beleuchteten matt die Pflastersteine und markierten den Verlauf der Straßen.
Am Vorgarten vorbei marschierte eine Abteilung Infanterie im Gleichschritt. Das Stampfen ihrer Stiefel durchbrach die Stille. Als Kind hatte sie gerne den Soldaten zugeschaut, war ihnen nachgerannt und hatte ihre Uniformen bewundert. Da hatten sie noch in der Stadt nahe der Rotebühlkaserne gewohnt.
Vor fünf Jahren waren sie in das neue Haus gezogen, das auf der Anhöhe oberhalb der Stadt lag. Die Straße war damals noch ein besserer Feldweg gewesen. Seither waren weitere Häuser entstanden, doch noch immer gab es größere Baulücken. Den Umstand, dass sie hierher ziehen durften, verdankten sie der geheimnisvollen Freundschaft ihres Vaters zum König. Ich werde ihm das Warum noch entlocken , dachte sie zum wiederholten Male.
Eleonore hörte die Uhr im Bücherzimmer, die zur vollen Stunde schlug. Um sieben Uhr abends begann ihre Stunde. Ihre Zeit für sich allein, für ihre Träume, ihr Buch. Im Haus war es still. Die Pferde hinten im Stall waren versorgt. Eugen, ihr Kutscher und Hausknecht, polierte den Wagen oder rauchte hinterm Haus genüsslich eine Zigarre. Die Hausarbeit ruhte. Maria saß in ihrer Kammer an irgendeiner Stickerei. Mutters Schlafzimmer war verwaist, ebenso wie die beiden Gästezimmer und noch zwei weitere Kammern im Dachgeschoss für Bedienstete. Weiße Bettlaken deckten dort die Möbel ab.
Im Garten stand der gemauerte Ofen. Den hatte ihre Mutter bauen lassen, und seitdem hatten sie einmal im Monat dort Sauerteigbrote gebacken, die sie dann an Ärmere verteilten. Eleonore hatte mit Maria ausgemacht, diese Tradition beizubehalten. So wollten sie in zwei Tagen den Ofen schüren lassen. Das würde wieder ein Stück Alltag zurückbringen. Ganz abgesehen davon, dass viele der Armen den Tag herbeisehnten. Für die war das Sauerteigbrot jedes Mal ein Festessen.
Eleonore zog den am Boden stehenden Nähkorb heran, um ihre Handarbeit aufzuräumen. Der Korb diente ihr auch als Versteck eines Buches von Bettina von Arnim. Sie hatte Bedenken, ob Vater die Lektüre für gut befand, denn ihre Mutter hatte es offenbar ebenfalls vor ihm in ihrer Wäschekommode verborgen. Dort hatte es Eleonore gefunden.
Insbesondere der Anhang des Buches, in dem die Autorin Schicksale der Arbeiter und ihrer Familien in den Elendsvierteln Berlins beklagte, hatte es Eleonore angetan. Wie das der Familie des Tischlers Krellenberg, die von allem zu wenig besaß. Hatte das Kind seine Gehirnentzündung auskuriert? Wie sah ihr Speiseplan heute aus? Gab es mehr zu essen als die Armensuppe?
Wo die einen alles im Überfluss hatten, kämpften andere tagtäglich ums nackte Überleben.
Bettina von Arnim, die ihre Stimme für die Armen erhob und auf Abhilfe drängte, stand ständig in der Kritik der Minister und Adeligen. In Bayern hatte die Regierung das Königsbuch verboten. In Preußen warf man ihr vor, das Buch habe die Grundlage für den Aufstand der schlesischen Weber geschaffen. Nur weil sie mit dem preußischen König im Briefkontakt stand, war ihr Buch durch die Zensur gekommen.
Vor Wochen hatte sie zum ersten Mal im Königsbuch gelesen und gleich einen Brief an Frau von Arnim geschrieben.
»Ich will gegen die Ungerechtigkeit angehen, wenn ich auch unbedeutend sein mag.«
Die Antwort kam schnell. Maria hatte ihr den Brief heimlich zugesteckt.
»Niemand ist unscheinbar«, hatte Frau von Arnim ihr geschrieben. Jeder könne zu einer besseren Welt beitragen.
Eleonore erfüllte es mit Stolz, dass sie, wie der preußische König, mit Frau von Arnim im Briefkontakt stand. Und auch in Mutters Nachlass hatte sie Briefe von ihr gefunden.
Eleonore seufzte.
Immer diese Heimlichtuerei!
Dabei konnte sie mit Vater über vieles reden. Sprach sie aber über Politik, hob er eine Augenbraue. Ein Zeichen der Missbilligung.
Sie schloss den Nähkorb, stand auf und trat an ihre Frisierkommode. Mit der Hand strich sie über das Furnier des Möbels. Sie dachte an den mit Briefen und Zeitungen vollgepackten Schreibtisch in Vaters Arbeitszimmer.
Sie öffnete die obere Schublade, griff unter den Stapel ihrer Unterwäsche und zog eine rechteckige Mappe mit stabilem Einband hervor. Vorsichtig schlug sie sie auf. Links steckten, von einem Stoffband gehalten, die Briefe der Frau von Arnim. Dahinter, fein zusammengefaltet, ein Zeitungsblatt. Rechts lagen lose Blätter, die Heimat ihrer Gedanken. Warum verweigerte man den Frauen die Scheidung? Einmal verheiratet bestimmte der Ehemann über Wohl und Wehe seiner Gattin. Wer arm geboren wurde, der blieb ein Leben lang arm. Fehlende Bildung verdammte Menschen dazu, dumm zu sterben. Eleonore zog den Artikel heraus, glättete ihn und begann zu lesen:
»Bekanntlich hat die geniale Frau Bettina von Arnim den schönen und rühmlichen Entschluss gefasst, dem Armenwesen in Deutschland ihre besondere Tätigkeit zu widmen. Die Ergebnisse will sie in einem besonders ausführlichen Werk der Öffentlichkeit übergeben. Zur Förderung dieses Werkes der Menschlichkeit ergeht ein Aufruf an alle, der Frau von Arnim getreue Berichte über den Zustand der Armut in ihrem Kreis, ihrer Stadt, oder in ihrem Dorf zukommen zu lassen.«
Mit Bleistift hatte ihre Mutter »18. Mai 1844« an die Seite gekritzelt. Eleonore hatte den Zeitungsausschnitt in Bettina von Arnims Buch gefunden. An den folgenden Tagen hatte Eleonore vergebens nach dem angekündigten Buch gesucht und zuletzt Frau von Arnim in einem Brief danach gefragt. Es gäbe kein zweites Armenbuch, hatte die geantwortet. Was mochte der Grund sein?
Dabei herrschte allerorten Armut. Viele wussten nicht, wie sie ihren Hunger stillen sollten, trugen sommers wie winters die gleiche Kleidung. Ständiger Mangel zehrte sie aus, sodass sie krank darniederlagen. Zur Linderung hatten sie nur das Gebet, denn einen Arzt konnte sich nicht jeder leisten. Dagegen besaßen andere ein Vielfaches dessen, was sie zum Leben benötigten. Lag es da nicht nahe, dass diejenigen, denen es gut ging, denen halfen, die zu wenig hatten? War das nicht sogar ihre moralische Verpflichtung?
Eleonore fühlte wieder diese innere Unruhe. Am liebsten würde sie jetzt in die Stadt gehen, die Häuser der Reichen besuchen und ihnen von ihrer Idee erzählen. Von den Patenschaften, die ein jeder übernehmen sollte, der es sich leisten konnte. Würde sie Gehör finden?
Sie steckte das Papier zurück zu den Briefen und überflog ihre letzten Einträge in den Blättern.
Warum hatte Mutter nicht mit ihr über Frau von Arnims Buch gesprochen? Verpasste Gelegenheiten.
Sie fühlte sich wie in einem Elfenbeinturm gefangen, ohne Ansprache, allein gelassen. Wie gerne würde sie Bettina von Arnim persönlich kennenlernen. Die würde sie bestimmt verstehen und ihre Idee mit den Patenschaften für gutheißen, sie sogar unterstützen.
Unter anderen Frauen kam sich Eleonore fremd vor. Sie fand keinen Bezug zu deren Problemen, die zumeist von ihren Frisuren oder Modefragen geprägt waren. Sie selbst trug gerne schöne Kleider, und auch sie achtete auf ihre Frisur. Aber das waren für sie Nebensächlichkeiten.
Gab es einen Mann, der sie verstand, der sie akzeptierte, der sie achtete als Mensch, nicht nur als Schönheit? Der ihr beistehen würde? Bei Leutnant August von Engel hatte sie ihre Bedenken. Ein paar Mal hatte sie miterlebt, wie unwirsch er seinen Burschen oder andere Soldaten behandelte. Das gehörte wohl zum Alltag einer Armee.
Wieder schlug die Uhr zur vollen Stunde. Zeit für den abendlichen Besuch bei ihrem Vater. Wie schnell Rituale weitergereicht werden, wenn jemand nicht mehr da ist , dachte Eleonore. Früher hatte ihre Mutter Vater abends ein Glas Milch gebracht. Heute war das ihre Aufgabe.
Читать дальше