Demonstrativ wandte er ihm den Rücken zu. Blasius zeigte sich wenig beeindruckt, rückte noch näher heran und zupfte ihn am Ärmel.
»Ein Wort im Vertrauen«, raunzte er.
William drehte sich um. »Was denn?« Er schob die Hand des anderen beiseite.
»Es ist gefährlich, Briefe einzuschmuggeln«, flüsterte Blasius.
William erstarrte. »Woher wisst Ihr …?« Er brach ab. Blasius musste ihn beobachtet haben.
Der nickte. Seine listigen Augen blitzten.
»Das geht Euch nichts an«, blaffte William, der sich wieder gefangen hatte. Er sah dem Händler in die Augen. »Es ist auch gefährlich, sich in anderer Leute Angelegenheiten zu mischen.«
Blasius wich von ihm ab. Zum ersten Mal.
Der Sog der übrigen Passagiere trennte sie. William schob die dicht beieinander wogenden Menschen zur Seite und erreichte den Holzsteg. Nur mit Mühe fand er Halt am Seil des Steges. Immer wieder stießen ihm Mitreisende ihre Ellenbogen in die Seiten, traten ihm fremde Füße auf seine. Endlich war er durch.
William ging wenige Schritte auf den Pflastersteinen und blieb stehen. Nun lag es an ihm, Erfolg zu haben, gelesen zu werden. In Gedanken sah er die Artikel, die er in die Staaten senden würde, sah den Hinweis:
Von unserem Korrespondenten William Garrison Euskirchen .
Seine Artikel gegen die Sklaverei hatten in Boston für Aufsehen gesorgt. Dazu war Blut geflossen. Nicht nur sein Blut. William presste seine Lippen zusammen. Er glaubte an die Kraft des geschriebenen Wortes, daran, dass Änderungen möglich waren.
In einem großen Netz hievten Matrosen das Gepäck der Passagiere von Bord. Koffer und Taschen purzelten auf den Boden wie ein Fang frischer Fische. Gleich darauf folgten die ersten Frachtkisten. Ein Schatten trat in Williams Blickfeld. Vollmatrose Moore. Er trug Williams Seekiste. Auf seinen Schultern glich sie einem Spielzeug. Der Seemann blickte umher und winkte einem Mann, der ein paar Meter entfernt mit seinem Leiterwagen stand. Der Dienstmann trottete heran und nahm seine Mütze ab.
»Wenn’s recht ist, werde ich Ihr Gepäck zum Gasthof bringen«, bot Moore William an und knallte die Kiste auf den Leiterwagen.
»Sagt dem Wirt, ich komme nach.« Er fischte aus seiner Jacke ein paar Münzen und reichte sie Moore. »Das Amtshaus …«
»Ist gleich dort oben«, fiel ihm der Matrose ins Wort. »Sie kommen direkt darauf zu.«
»Und den Goldenen Schlüssel finde ich in einer der Nebenstraßen?«
»In der Mittelstraße «, sagte Moore. »Bereits die zweite Abzweigung. Die Stadt ist noch recht klein.«
»Dann sehen wir uns später zu einem Bier«, sagte William.
Moore war ihm im Laufe der vierzigtägigen Überfahrt stets eine Hilfe gewesen. Der Seemann grinste breit, tippte an seine Stirn, als salutiere er, und marschierte los. Der Leiterwagenmann folgte. Die beiden Männer verschwanden im Nebel. William hörte noch eine Zeit lang die Holzräder über das Pflaster rumpeln.
Die meisten Passagiere hatten die Kaje verlassen. Blasius stand wenige Meter entfernt und sprach mit einem glatzköpfigen Mann, den William nicht kannte. Im Gegensatz zu ihm wurde der Stoffhändler also empfangen. Er sah, wie der Mann Blasius eine Münze reichte. Der beäugte das Geld, als sei es ein Schmuckstück, wendete es ein paar Mal und gab es mit einem Kopfnicken zurück. Dann legte er eine Hand auf die Schulter des Glatzköpfigen, ging mit diesem ein paar Schritte und überreichte ihm einen Umschlag. Was mochte Blasius dem Fremden überreicht haben? , überlegte William. Er wusste von diesem kaum etwas, hatte aber das Gefühl, dass der nahezu alles von ihm wusste.
Der Glatzköpfige klemmte den Umschlag unter seinen Arm und stakste die Straße hoch. Blasius sah ihm nach, entdeckte William und trat auf ihn zu.
»Eine dringende Sache, nichts für die Schneckenpost«, erklärte er. Dann rief er eine nahestehende Kutsche heran. »Ihnen eine glückliche Heimkehr«, murmelte Blasius noch, dann wandte er ihm den Rücken zu.
William deutete eine Verbeugung an. Ihm sollte es recht sein, dass der Mann kein Interesse mehr an ihm hatte. Leb wohl, du Klette , dachte er. Auf dass wir uns nie mehr wiedersehen .
Vorsichtig ging er über das nass glänzende Pflaster weiter. An den Rändern lagen schmutziggraue Schneereste. Nach einer Weile sah er ein Haus, dessen Front von vier Säulen dominiert wurde. Das musste das Amtshaus sein. William blickte zum Anlegeplatz. Weitere Passagiere folgten ihm. Er wollte die Formalitäten schnell hinter sich bringen.
Friedrich hatte ihm geschrieben, wie er mit den Behörden umgehen sollte. Einen Satz hatte er unterstrichen: »Achte die Interessen der Behörden, und sie werden bald jedwedes Interesse an Dir verlieren.« Dazu gehörte nun einmal die polizeiliche Meldung.
William betrat das Gebäude und stand bald einem streng dreinblickenden Mann in Uniform und mit Backenbart gegenüber. Er dachte an Blasius und die Papiere, die er unter dem Hemd verbarg. Wie Feuer lagen sie auf seiner Brust. Es war seine Idee gewesen, Briefe von Auswanderern mitzunehmen und sie direkt den Verwandten in Deutschland zu übergeben. Dabei ging es William nicht darum, die Briefe an der Zensur vorbei zu schmuggeln, mehr um den direkten Kontakt mit den »Daheimgebliebenen«, über die er berichten sollte.
William unterdrückte den Impuls, zu schlucken. Stattdessen lächelte er und händigte seinen Ausweis aus. Der Beamte schrieb Notizen in ein Buch, sah von Zeit zu Zeit auf, fixierte William eindringlich und vertiefte sich wieder in das Papier.
»Sie sind amerikanischer Staatsbürger«, brummte der Beamte. War das eine Frage oder eine Feststellung? »Die Angaben Ihrer Statur entsprechen den Tatsachen. Sogar die Narbe ist vermerkt.«
Die Narbe!
Sie verlief in gerader Linie, wie eine Rinne, vom Haaransatz hinunter bis zu seiner linken Augenbraue. Eine stete Mahnung an William, besonnener zu handeln.
Der Beamte las weiter: »Hier steht, Sie wollen Deutschland bereisen.« Er hob seine Stimme: »Das ist sehr ungenau. So geht das nicht. Sie sind mit ihren dreiundzwanzig recht jung. Man hört so viel von herumziehenden, Unruhe stiftenden Studenten.«
»Ich bin Korrespondent«, sagte William.
»Und weiter?« Der Beamte sah ihn erwartungsvoll an. Wie ein Lehrer, der auf die Antwort seines Schülers wartete, insgeheim aber schon ahnte, dass dieser nichts wusste.
William wollte Zeit gewinnen und betrachtete die große Landkarte, die an der Wand hing. Sie zeigte die Staaten des Deutschen Bundes. Da jeder Staat anders eingefärbt war, ähnelte sie einem bunten Flickenteppich. Alle sechsunddreißig Staaten, mochten sie noch so klein sein, regierte jeweils ein Fürst. Dessen Angehörige, Prinzen und Prinzessinnen, lebten auf Kosten des Volkes.
William tippte auf die Karte. »Zunächst nach Berlin«, sagte er.
Wie mochte es Friedrich ergehen?
»Und weiter?« fragte der Beamte.
Pochte seine Narbe? Die Briefe würden seine Reiseroute bestimmen, doch davon konnte er nicht erzählen. Williams Finger strich über die Karte nach unten und schwenkte nach links.
»Natürlich werde ich Stuttgart besuchen, meine alte Heimat.«
Die Augen des Beamten folgten seinem Finger. Wie eine Hyäne, die Blut gerochen hatte. William überlegte, wie er den Beamten befriedigen konnte. Würde Geld helfen? Ihm kam eine bessere Idee. William trat von der Karte zurück und nestelte an seinem Mantel herum. Papier raschelte unter dem Stoff.
Die Augen des Beamten wurden groß. »Was verbergen Sie da?«
William zog die Zeitung hervor, die er eingesteckt hatte.
»Es ist verboten, deutschsprachiges Schriftgut aus dem Auslande einzuführen«, belehrte ihn der Beamte.
»Dies ist mehr eine Heimkehr.« William strich das Titelblatt glatt. Es war eine Ausgabe der » Königlich privilegierten Berlinischen Zeitung « vom Sommer des letzten Jahres. Zwischen den Anzeigen für Bandwurmkuren und einem Café, das zum Tanzabend einlud, hatte er eine Annonce seines Bruders entdeckt.
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