Hans wusste, dass sie trotz des scherzhaften Untertons unbestechlich jede Nuance seiner Reaktion beobachtete.
Es war in diesem Fall noch gar nichts vorgefallen, aber er hatte sich schon ertappt gefühlt. »Die Band ist interessant«, hatte er nur matt geantwortet.
»Oder ist es die Besetzung?«, war punktgenau die nächste Frage gekommen. Ihre instinktsichere Intuition verblüffte Hans immer wieder.
»Die Besetzung auch. Zwei Musiker scheinen aus Südamerika zu kommen«, hatte er schnell begonnen, gegen das Gefühl anzureden, gleich einen roten Kopf zu bekommen.
»Alles Männer?«
»Eine Frau ist auch dabei. Die Sängerin«, hatte er leichthin bemerkt.
»Hm, na dann viel Spaß«, hatte sie das Gespräch beendet und sich in ihre kleine Goldschmiedewerkstatt zurückgezogen.
Als das erste Kind unterwegs war, hatten sie diese Werkstatt eingerichtet, damit sie zu Hause weiterarbeiten konnte.
Am liebsten wäre Hans ihr nachgelaufen und hätte einen gewaltigen Krach angezettelt. Denn schließlich war noch gar nichts passiert.
Aber sie hatte ihm konkret auch nichts vorgeworfen.
Doch nach zwölf Jahren Ehe kannte er genau den gemeinten Untertext ihrer Sätze. So wie sie seine Mienen und Gesten zu entschlüsseln wusste.
Er hasste es, wenn sie etwas andeutete und ihn dann mitten im Gespräch stehen ließ, bevor er richtig antworten konnte.
Diesen Freitag hatte er gar nicht gewagt, von dem Jazzclub zu erzählen.
Er wollte zur Premiere von »Transit Europa« von Volker Braun an den Kammerspielen des Deutschen Theaters in Ost-Berlin.
Er sollte eine Kritik für den »Tagesspiegel« schreiben. Er wusste, dass die Aufführung um kurz nach dreiundzwanzig Uhr zu Ende sein würde.
Als wäre es die letzte Gelegenheit, wollte er die Sängerin heute unbedingt ansprechen. Auch wenn er nur eine halbe Stunde Zeit hatte.
Er beschimpfte sich selber als pubertär, während er den Rücklichtern des davonfahrenden Alfa hinterher schaute.
Überflüssigerweise winkte er den beiden Volkspolizisten in ihrem Wartburg zu, nachdem er gewendet hatte, um zur Grenze zurückzufahren.
*
»Im Wasser ihrer Augen
Spiegelt sich das klare Grün.«
Marios Stimme. Entsetzt drehte sie sich um. Es war bei einer ihrer ersten öffentlichen Auftritte in der DDR. Sie wollte gerade zurück zur Bühne und entdeckte unter den Zuhörern den gewaltigen Lockenkopf Mario Lavellis.
Es gab eine Zeit, da hätte das Auftauchen dieses Lockenkopfs bei ihr uneingeschränkt Freude ausgelöst. Dieser Freude war jetzt eine unerklärliche Vorsicht beigemischt.
Nachdem er damals in der Technischen Universität in Santiago de Chile einfach verschwunden war, hatte sie nie wieder von ihm gehört.
Seit zwei Jahren lebte sie nun schon in der DDR. Chile und Mario gehörten für sie zu einer weit entfernten und vergrabenen Vergangenheit. Von einem auf den anderen Tag war er aus ihrem Leben gefallen.
Noch in Chile hatte sie zu zweifeln begonnen, ob der Grund dafür bei ihm nur verletzte Eitelkeit war. Möglicherweise gab es auch politische Gründe. Sie hatte sich eingestehen müssen, dass sie ihn viel weniger kannte, als sie geglaubt hatte.
In der ersten Pause sprach er sie an. Er gab ihr die Hand. Es gefiel ihr, dass er ihr nicht einmal den in Chile üblichen Kuss auf die Wangen gab.
»Was machst du hier?«, fragte sie ihn in einem Tonfall, der ebenso Staunen wie Vorwurf bedeuten könnte.
»Du weißt doch, ich liebe Musik«, antwortete er ihr lächelnd, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, dass er hier in Ost-Berlin auf einmal vor ihr stand.
»Bist du zu Besuch hier?«
»Nein, ich lebe hier.«
»In Ost-Berlin?«
»In West-Berlin.«
»Seit wann?«
»Seit eineinhalb Jahren.«
Sie fragte sich, wozu Mario nach Deutschland gekommen sein könnte. Als Asylant? Von politischen Aktivitäten für die Linke hatte sie, als sie in Chile mit ihm zusammen war, nichts bemerkt. Eher hätte sie bei ihm Sympathien für die andere Seite vermutet.
»Was machst du in West-Berlin?«
»Ich habe gerade ein Lokal aufgemacht. Mit Livemusik. Du kannst ja mal vorbeischauen.«
Sie blickte ihn etwas mitleidig an. Seine Kenntnis politischer Verhältnisse schien noch genauso unterentwickelt zu sein wie in Chile. Dennoch musste Laura sich eingestehen, sich wirklich über das Wiedersehen mit Mario zu freuen.
»Dann bist du also als Geschäftsmann nach Berlin gekommen?
Nein, erst als Asylbewerber.«
Laura ließ sich nicht anmerken, wie absurd diese Vorstellung für sie war: Mario als politischer Flüchtling.
»Politisches Asyl«, sagte sie mehr als bestätigende Feststellung für sich, nicht als Frage.
»Ja«, antwortete Mario knapp und bestimmt, »ich bin bereits anerkannt und kann an der Technischen Universität weiterstudieren.«
»Und wie schaffst du das mit deinem Lokal?«, wollte Laura wissen.
»Das mache ich zusammen mit meiner italienischen Familie«, erwiderte er verschmitzt, ohne seinen prüfenden Blick von ihr zu wenden.
Auf der Bühne hatte der Bassist begonnen, seinen Bass nachzustimmen. Laura drehte sich um und sah, dass der Rest der Band bereit war, weiterzuspielen.
»So, ich muss weitermachen«, sagte sie, während sie ihm zuwinkend zur Bühne zurückging.
Auch wenn sie sich über sein Auftauchen gefreut hatte, wäre es unsinnig gewesen, nach allem was in der Zwischenzeit passiert war, dort wieder anzuknüpfen, wo beide den Faden damals einfach durchgeschnitten hatten.
Sie wollte das nicht. Obwohl sie nur gute Erinnerungen an die Zeit mit Mario hatte.
*
Ahora bien, si a poco dejas de quererme, dejaré de quererte poco a poco. Si de pronto me olvidas, no me busques, que ya te habié olvidado.
(Nun aber, wenn du allmählich aufhörst, mich zu lieben, werde ich aufhören, dich zu lieben, allmählich. Wenn du auf einmal mich vergisst, suche nicht nach mir, denn ich werde dich schon vergessen haben.)
Diese Zeilen von Pablo Neruda fielen ihr ein, als sie zur Bühne zurückging.
Sie liebte den Absolutheitsanspruch und die brutale Konsequenz, die darin steckten.
Das Schicksal ihrer Großmutter muss diese Neigung zur Radikalität gefördert haben.
Der Großvater hatte sie zehn Jahre vor der kubanischen Revolution verlassen und sich in die Vereinigten Staaten abgesetzt.
Sie hatte sich und die sechs Kinder alleine durchbringen müssen und war von Tabakernte zu Zuckerrohrernte als Wanderfamilie über die Insel gezogen.
Doch nie hatte sich Mama Esmeralda vor ihrer Enkelin beklagt und nie hatte sie sich wieder mit einem Mann eingelassen.
Das hat Laura schon als kleines Mädchen imponiert.
Über den Großvater hatte Laura von ihrer Großmutter dennoch kein böses Wort gehört. Er hatte Mama Esmeralda verlassen und sie hatte ihn konsequent vergessen. Der Comandante wurde der einzige Mann, den sie nach der Revolution kritiklos verehrte. Durch ihn wären die Schwarzen erst zu vollwertigen Menschen geworden.
Als sie wieder auf der Bühne des Jazzkellers war, ärgerte sie sich über das beginnende Bröckeln ihrer Konsequenz, das auch Mario bemerkt haben musste. Sie redete sich ein, es wäre nur Neugierde auf das Leben Marios nach ihrer Trennung. Aber sie wusste, dass sie sich selbst belog. Sie schaute unauffällig in Richtung seines Platzes. Er war noch da. Er hatte nichts von seiner Attraktion verloren.
Aber eine für sie unerklärliche Empfindung war dazu gekommen, eine Empfindung, für die Misstrauen schon ein viel zu starkes Wort war. Bei aller charmanten Wendigkeit steckte in Mario eine gnadenlose Energie. Eine Gefährlichkeit, die sie früher an ihm noch nicht bemerkt hatte. Aus dem schlagfertigen Studenten von damals war ein immer noch liebenswürdiger Mann geworden. Allerdings mit einer unbeirrbaren Zielstrebigkeit, die keinen Widerspruch dulden würde. Sie fühlte sich ihm gegenüber nicht mehr ebenbürtig.
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