„Das tut mir leid. Warum sind Sie hier geblieben?“, fragte ich Stahlke, um zu verhindern, dass die Unterhaltung ins Melancholische abdriftete.
Er zuckte die Achseln. „Wo hätte ich denn hingehen sollen? Wieder nach Frankfurt? In meinem Alter hätte mich keiner mehr genommen, und dort eine eigene Kanzlei aufzumachen, hätte ich mir nicht leisten können. Außerdem fehlt mir das Renomee, das man als Anwalt in einer Großstadt braucht, um auf Dauer überleben zu können. Jahrelang in der Provinz die Landwirte bei Kaufverträgen oder Erbschaften beraten zu haben, ist nichts, womit man Eindruck schinden könnte.“
„Ist schon praktisch, jemanden im Dorf zu haben, der sich mit Gesetzen auskennt“, erklärte Hannes begeistert, als hätte er Stahlke gar nicht gehört. „Mich hat er letztes Jahr in Trier vor Gericht vertreten, als mir ein großes Unternehmen nicht den vereinbarten Preis für mein Schlachtvieh zahlen wollte. Ohne Ralph hätte ich mich gar nicht getraut, mich mit denen gerichtlich anzulegen. Aber wir haben gewonnen!“
„Ja, meine letzte Heldentat“, sagte Stahlke ironisch. „Ich bin der einzige Anwalt im Umkreis von fünfzehn Kilometern. Da kann man es glatt zur Berühmtheit bringen.“
Irgendwie gefiel mir seine sarkastische Art. Vielleicht sah ich in ihm auch einen Leidensgenossen. Er zog eine Visitenkarte aus seiner Jackentasche und reichte sie mir. „Kommen Sie mich doch mal in meinem bescheidenen Domizil besuchen! Sie können es nicht verwechseln, außer mir ist sonst kein Anwaltsbüro in dem Haus.“
Um ein Uhr morgens verließ ich die Wirtschaft. Ich spürte, dass ich einen leichten Rausch hatte. Es war der erste seit fast einem halben Jahr. Ich fühlte mich dennoch gut.
Wenn Leichen nicht vergraben sind, lassen sie sich kaum verbergen. Der Verwesungsprozess setzt unmittelbar ein, sobald das Herz aufhört zu schlagen und das Gehirn keinerlei Aktivität mehr aufweist. Die Zellen des Körpers beginnen zu verfallen, weil ihnen die Energiezufuhr genommen wird.
Die Zerfallsprodukte organischer Substanzen entwickeln starke Gerüche, die schon bald in der Umgebung unangenehm in der Luft liegen, wie ich nur zu gut wusste. Insekten werden angezogen. Als erstes kommen immer die Fliegen. Mit ihren empfindlichen Geruchsorganen riechen sie Aas auf große Distanzen. Ihre Überlebensstrategie ist es, Eier auf verwesendes Fleisch zu legen, damit sich die Larven davon ernähren können. Bei warmer Witterung können ganze schwarze Wolken von Fliegen über einer Leiche hängen, und ihr Brummen ist dann beinah Ohren betäubend. So wie an dem Tag, als Melanie tot aufgefunden wurde.
Doch auch andere Tiere, vor allem Käfer, begrüßen die Leiche als gefundenes Festmahl. Sie krabbeln in alle Körperöffnungen. Manchmal, wenn die Leiche ungeschützt liegt, machen sich auch Fleisch fressende Säugetiere und Vögel über den Kadaver her. Für sie macht es keinen Unterschied, was das tote Fleisch zu Lebzeiten gewesen war. Es interessiert sie auch nicht, warum es gestorben war, denn für sie bedeutet der Tod anderer, selbst zu überleben.
Melanies Leiche war nur halb eingegraben, als wäre ein Totengräber bei seiner Arbeit gestört worden. Sie lag ein wenig seitlich, so dass ihre rechte Körperseite verdeckt war. Der Täter hatte die Erde kaum zwei Handbreit ausgehoben und die Tote dann dort hinein gelegt.
Melanies schwarze Haare hingen über ihrem Gesicht. Der Wind spielte leicht mit einigen Strähnen und bewegte sie über ihren offenen Augen hin und her. Quer über ihren Hals verlief eine Wunde. Blut war aus dem tiefen Schnitt gelaufen und bildete mit der blassen Haut einen morbiden Kontrast. Ihr T-Shirt und die Jeans waren zwar dreckig, aber nicht zerrissen. Mir fiel auf, dass auf dem Boden unter ihr kaum Blut zu sehen war. In Anbetracht der Wunde ließ dies nur eine Schlussfolgerung zu: Sie war woanders getötet und erst nachdem sie ausgeblutet war hierher gebracht worden.
Hannes wolle sie sofort umdrehen, doch ich hielt ihn am Arm fest.
„Nicht anfassen!“, ermahnte ich ihn.
Ich kniete mich vorsichtig neben Melanie und scheuchte damit einen Schwarm unwillig brummender Fliegen auf.
Melanies Pupillen waren starr und reagierten nicht auf Lichtreflexe. Auch ihr Oberkörper hob und senkte sich nicht. Ich hielt meinen Handrücken dicht vor ihrem Mund, während ein kleiner, schwarzer Käfer von ihrer Lippe davon stob. Kein Atemhauch war zu spüren. Um ganz sicher zu gehen, tastete ich nach ihrem Puls am Handgelenk. Ihn an ihrem Hals zu suchen, schloss sich in Anbetracht der tiefen, blutverkrusteten Wunde von vorneherein aus. Ich bemerkte, dass ihr Arm steif war. Die Leichenstarre hatte bereits eingesetzt. Ihre Haut war ausgekühlt.
Ich sah zu Hannes hoch und schüttelte den Kopf. „Sie ist tot.“
Er war ein Kerl wie ein Bär, aber jetzt wurde er käsig bleich und im nächsten Moment stürzte Hannes zum Waldrand und erbrach sich.
Mein Blick fiel erneut auf ihre Handgelenke. Sie waren beide aufgescheuert. Ich war mir sicher, dass die Wundmale von Fesseln herrührten.
Ich versuchte, nicht zu atmen, und beugte mich erneut tief über Melanies Gesicht. Aufmerksam betrachtete ich ihren Mund, die Nase und die Ohren. Tatsächlich entdeckte ich in ihrem rechten Nasenloch, was ich suchte: eine winzige Made. Sie stammte von einer Fliege, vermutlich einer gewöhnlichen Schmeißfliege, und befand sich im ersten Entwicklungsstadium. Melanies Tod musste demnach vor mindestens acht bis vierzehn Stunden eingetreten sein, sonst wäre die Made noch nicht geschlüpft. Nach weiteren acht bis vierzehn Stunden hätte die Larve bereits ihre Haut abgestreift, was jedoch hier nicht der Fall war. Wahrscheinlich würde man bei genauerer Untersuchung noch weitere Maden finden, aber ich hatte genug gesehen und wollte vor allem keine möglichen Spuren verwischen.
Ich erhob mich und ging zu Hannes, der immer noch grün im Gesicht an einem Baumstamm lehnte. Er atmete schwer und in seinen Augen schwammen Tränen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
„Wieso Melanie?“, stammelte er. „Wer tut so etwas?“
Ich zuckte die Achseln. Eine Frage, die ich mir schon sehr oft gestellt hatte: Wieso sind Menschen zu so etwas in der Lage? Auch wenn ich die häufigsten Gründen dafür kannte – Hass, Eifersucht, sexueller Trieb, Geldgier – hatte ich nie wirklich begreifen können, wie man die Grenze von der bloßen Vorstellung zur Tat überschreiten konnte.
„Ich weiß es nicht. Ich kann dir nur sagen, dass sie höchstens einen halben Tag hier liegt und ihr mit einem Messer oder einem ähnlich scharfen Gegenstand die Halsschlagader und die Luftröhre durchschnitten wurden. Das Opfer erleidet dadurch einen Schock, so dass es keine Schmerzen verspürt. Der Tod tritt dann rasch durch Ersticken ein.“ Letzteres sagte ich, um ihm wenigstens den geringen Trost zu spenden, dass Melanie nicht lange gelitten haben konnte.
Hannes sah mich erstaunt an, und schien für einen Augenblick seine Übelkeit zu vergessen. „Du guckst zu viele von diesen CSI-Serien im Fernsehen “, meinte er schließlich.
Ich zuckte zusammen, als hätte mich etwas gestochen. Unbedacht hatte ich zuviel von meinem Wissen ausgeplaudert.
„Wahrscheinlich“, sagte ich leise und wandte mich ab.
Ich hatte schon zu oft Leichen in meinem Leben gesehen. Und ich hatte nie wieder welche sehen wollen. Was tust du hier eigentlich, fragte ich mich vorwurfsvoll, dies ist nicht deine Aufgabe.
Motorengeräusche näherten sich und wenig später tauchten gleich drei Autos aus dem Wald auf. Als erster stieg Josef Schuster aus dem Wagen. Der Bürgermeister hatte wie immer eine ungesund rote Gesichtsfarbe. Oliver Barweiler und dessen Frau Doris hatte er in seinem alten Diesel mitgenommen. Aus dem Auto dahinter schälten sich Henning und Dorothe Dittscheid, die Besitzer des kleinen Supermarkts. Dem dritten Fahrzeug entstieg Eduard Broich.
Читать дальше