Tote schweigen für immer
Ingo Gach
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Tote schweigen für immer
Autor: Ingo Gach
Copyright © 2012 by Ingo Gach
published by: epubli GmbH, Berlin
www.epubli.deCoverfoto: © Andrea Brenn ISBN 978-3-8442-4235-5
Völlige Dunkelheit umgab sie. Es war nicht wie das diffuse Dämmerlicht, das außerhalb des Dorfs herrschte, wenn man die letzte Straßenlaterne hinter sich gelassen hatte. Das hier war einfach schwarz. Egal, ob ihre Augen offen oder geschlossen waren, sie konnte überhaupt nichts sehen.
Eine erneute Panikattacke überrollte sie. Wie wahnsinnig zerrte sie an ihren Fesseln und spürte gar nicht mehr, wie der scharfkantige Kabelbinder weiter in ihre Handgelenke schnitt. Sie hatte schon vor Stunden begriffen, dass Befreiungsversuche zwecklos waren, dennoch wollte sie es nicht wahrhaben. Er hatte ihr nicht nur die Hände hinter dem Rücken gefesselt, sondern auch mit einem kurzen Strick an die Füße gebunden, so dass sie in unnatürlicher verkrümmter Haltung im Hohlkreuz lag. Es gab keine Chance, aufzustehen oder sich auch nur wegzurollen.
Das Atmen fiel ihr schwer, das zähe Klebeband auf ihrem Mund ließ sich einfach nicht lösen, so sehr sie es auch versucht hatte. Schreien war ausgeschlossen. Und selbst wenn sie sich die Lunge aus dem Leib gebrüllt hätte, niemand hätte sie hier hören können. Es war ein fürchterlicher Albtraum, aus dem es kein Erwachen gab.
Ihr ganzer Körper schmerzte. Ihre Muskeln wurden immer wieder von Krämpfen geschüttelt und ihre Ellenbogen hatte sie sich auf dem harten Steinboden blutig geschlagen. Die Kälte kroch durch ihren Körper. Sie wollte weinen, hatte aber keine Tränen mehr. Warum, o Gott, warum?
Erneut fiel in ihrer Nähe ein Wassertropfen. Sie hörte das zarte Platschen des Aufpralls. Wo kam er nur her, es hatte doch seit Tagen nicht mehr geregnet? Im gleichen Augenblick schüttelte sie den Gedanken ab. Wie konnte sie nur an so etwas Unwichtiges wie das Wetter denken? Sie verspürte Durst, schrecklichen Durst. Wann habe ich das letzte Mal etwas getrunken? Sie konnte sich nicht erinnern.
Ein Geräusch! Ein leises Rascheln. Kam er wieder? Oder hatte sie es sich nur eingebildet? Sie wusste nicht, ob sie sich seine Wiederkehr herbei wünschen oder fürchten sollte. Was würde er mit ihr machen?
Erneut ein leises Kratzen. War es ein Tier? Hoffentlich waren es keine Ratten. Sie hatte mal irgendwo gelesen, dass Ratten nachts hilflose Gefangene annagen würden. Die Vorstellung beschleunigte ihren Herzschlag, und sie lauschte angestrengt in die Dunkelheit. Doch es herrschte völlige Stille.
Ihre Mutter würde schon längst nach ihr suchen lassen. Ganz bestimmt. Sicher war das gesamte Dorf auf den Beinen, um sie zu retten. Wir konnten uns doch immer aufeinander verlassen.
Wie spät war es? Selbst am Tag konnte sie nur ein schwaches Zwielicht erkennen. Als die Nacht herein gebrochen war, wurde sie müde und konnte dennoch nicht schlafen. Die Angst hielt sie wach.
Die Zeit hatte ihre Bedeutung verloren. Es gab nur noch warten und hoffen. So lange sie Hoffnung hatte, würde ihr Überlebenswillen nicht verlöschen.
Der Himmel war an diesem Morgen tiefblau und wolkenlos, als das Grauen ohne Vorwarnung über das Dorf hereinbrach.
Eine Fliege setze sich auf mein Gesicht und weckte mich. Ich verscheuchte das lästige Insekt und wühlte mich schweißgebadet aus dem Bett. Vor meinem offenen Schlafzimmerfenster hing ein verrostetes Thermometer. Es zeigte mit 27 Grad um acht Uhr morgens einen neuen Rekord für diesen Sommer an.
Ich trat an das Fenster und blinzelte nach draußen. Ein Schwall trockenheißer Luft traf meine Haut wie ein Fön. Das Gras in meinem immer noch verwilderten Garten hatte sich gelb verfärbt. Ich nahm mir erneut vor, endlich das Unkraut zu jäten und die Pflanzen rund um mein Haus zu wässern und hoffte, diesmal wirklich daran zu denken.
Ein stabiles Hochdruckgebiet lag seit einer Woche über der Eifel, was selten vorkam. Zuerst hatten sich alle im Dorf darüber gefreut, aber nun jammerten bereits die Ersten über die Hitze und vor allem über die anhaltende Trockenheit. Das Getreide würde bald verdorren, wenn kein Regen käme. Selbst die Halster, die dem kleinen Ort seinen Namen gegeben hatte, führte nur noch die Hälfte des sonst üblichen Wassers.
Das Schreckgespenst der Missernte schwebte drohend über dem Tal. Fast alle hier waren von der Landwirtschaft abhängig. Wenn die Einwohner des Dorfs jedoch gewusst hätten, was in den nächsten Tagen noch auf sie zukommen würde, hätten sie eine Dürre mit Freuden vorgezogen.
Ich schleppte mich zum Kühlschrank, um eine halbe Flasche Wasser leer zu trinken. Es half nichts, ich hatte den Eindruck, als würde mein Körper die Flüssigkeit sofort wieder aus allen Poren herausdrücken. Selbst eine kalte Dusche wollte kaum Linderung bringen. Als ich danach in den Badezimmerspiegel sah, starrte mich ein Gesicht an, das bereits von den ersten Falten durchzogen war und dessen braune Augen leicht gerötet waren. Ich streckte mir die Zunge heraus.
Den Versuch, meine dunklen Haare in so etwas wie eine Frisur zu bringen, gab ich bald auf. Es war mir egal, da ich annahm, dass mich heute ohnehin niemand sehen würde. Ich sollte mich gewaltig täuschen.
Mein Frühstück bestand wie immer aus einer Tasse starken Kaffee, bevor ich mich meiner täglichen Arbeit zuwandte. Ich restaurierte alte Motorräder. Dieser Tätigkeit ging ich nun seit fast einem Jahr nach. Im Dorf dachten alle, dass ich schon immer Mechaniker gewesen sei. Ich ließ sie in dem Glauben. Was ich in meinem früheren Leben gemacht hatte, ging niemanden etwas an. Ich wollte nicht, dass es jemand erfährt.
Zu meiner Arbeitsstätte hatte ich es nicht weit: Es war ein Holzschuppen in meinem Garten, der irgendwann einmal als Garage gedient hatte. Er war geräumig, so dass zwei Wagen bequem nebeneinander hätten stehen können. Doch ich hatte keine Autos in den Schuppen gestellt. Ich öffnete die quietschende Holztür und begab mich an die Reparatur eines vierzig Jahre alten Motorrads der Marke Triumph, das ich vor einigen Tagen in desolatem Zustand günstig gekauft hatte.
An einer Wand hing ein billiger Kalender, der sich als Beilage in einer Motorradzeitschrift befunden hatte. Im Vorbeigehen registrierte ich, dass wir den dreizehnten August hatten. Ein Tag wie jeder andere, dachte ich flüchtig.
Das musste ungefähr der Zeitpunkt gewesen sein, als Helmut Rodder verstört ins Dorf gestolpert kam. Ich erfuhr erst später im ‚Dorfkrug’, dass Rodder mit hochrotem Gesicht an einigen Leuten vorbei gerannt war, das Gewehr über der Schulter, und sein imposanter Bierbauch dabei wie wild tanzte. Die wenigen Dorfbewohner, die er traf, hatten ihm verwirrt nachgesehen, doch der Landwirt schien sie nicht einmal wahrgenommen zu haben. Schwitzend und keuchend hatte Rodder schließlich seine Haustür aufgestoßen.
Sein Anblick hatte ausgereicht, um seine Ehefrau Helga sofort begreifen zu lassen, dass etwas Schlimmes passiert sein musste, wie sie wenige Stunden darauf aufgeregt in der einzigen Gastwirtschaft des kleinen Orts erzählte. Der Großteil der Dorfbewohner war bei ihrem schluchzend vorgetragenen Bericht anwesend, einschließlich meiner Wenigkeit.
„Vom Sporttreiben hat Helmut ja noch nie etwas gehalten, und dennoch ist er den ganzen Weg aus dem Wald bis zum Hof gerannt“, sagte sie aufgelöst.
Rodders Passion galt der Jagd, und er war bereits in der Morgendämmerung auf die Pirsch gegangen. Sein gepachtetes Revier grenzte unmittelbar an das Dorf, und bis zum Hochsitz waren es von seinem Bauernhof zwanzig Minuten Fußmarsch.
Dass Rodder zunächst mit seiner Frau kein Wort gewechselt hatte, sondern an ihr vorbei in das Wohnzimmer gestürzt war, um sich einen Schnaps zu genehmigen, wunderte mich nicht. Es war auch kaum der Erwähnung wert gewesen, denn jeder im Ort wusste, dass Rodder in einer alten Destille hinter seiner Scheune Wacholderschnaps brannte. Schwarz natürlich, aber das störte niemand, schließlich verkaufte er den Schnaps günstig an das halbe Dorf. Er selbst war jedoch sein größter Abnehmer.
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