Jasmin Bachmeyer arbeitete als Regalauffüllerin in mehreren Supermärkten. Sie musste meist schon um sechs Uhr aus dem Haus, da lag der Sohn noch ganz gemütlich unter seiner Decke. Ob er später aufstand, entzog sich ihrer Kontrolle. Jetzt war der Vater zu Hause. Aber der kümmerte sich nicht um seinen Sohn. Auch er stand auf, wann er wollte und dann schaute er nicht, ob der Sohn noch im Bett lag, oder in die Schule gegangen war. Seit Sven seine Arbeit verloren hatte, fühlte er sich nutzlos. Er litt unter dem Geldmangel und versuchte sein Versagen im Alkohol zu ertränken. Gerade, dass er es hinkriegte, die Tochter in den Kindergarten zu bringen. Das klappte auch nicht immer. Oft lag der Vater zu lange im Bett. Dann war es zu spät für den Kindergarten und Anja musste den Tag in der Wohnung verbringen.
Kevin befand sich gerade mitten in der Pubertät. Er stand auf, wann er wollte, zog sich irgendwelche Klamotten aus dem Schrank, ging vielleicht in die Schule, vielleicht auch nicht. Wenn er in die Schule ging, fiel er durch aggressives unangepasstes Verhalten auf. Er flegelte sich auf seinen Stuhl, die Füße auf dem Tisch, die Arme hinterm Kopf verschränkt. Auf manche Lehrer hörte er, auf einige überhaupt nicht. Dann blieb er so sitzen, gab freche, oder gar keine Antworten, spielte mit anderen Karten, oder redete in normaler Lautstärke über das letzte Fußballspiel. Er gab sich keinerlei Mühe, wenigstens so zu tun, als sei ihm die Schule wichtig. Stattdessen ignorierte er den Lehrer und alles, was der erklärte.
Herr Ruppert, der Englischlehrer teilte die letzte Arbeit aus: „Bachmeyer, das war leider zu wenig. Ich konnte dir keine andere Note geben.“
Kevin nahm die Arbeit entgegen, ohne auch nur drauf zu schauen. Die „6“ war ihm völlig egal. Er steckte das Blatt weg und murmelte nur: „Und wenn schon.“ Sekunden später spielte er mit seinen Freunden weiter Karten, ohne sich noch um den Unterricht zu kümmern.
Der Lehrer resignierte. Er hatte schon öfter versucht, den Jungs, ihr Kartenspiel wegzunehmen, aber entweder rückten sie es nicht raus, oder aber einer der Buben hatte ein weiteres Spiel dabei, so dass sein Handeln ins Leere lief. „Ey Alter“, rief ihm Kevin hinterher, als er durch die Klasse ging. „gib’s endlich auf. Englisch rafft doch eh keiner. Wann checkst du’s endlich?“
Herr Ruppert wandte sich von Kevins Clique ab und den Schülern zu, die etwas lernwilliger in den vorderen Reihen saßen.
Wenn Kevin keinen Bock auf Schule hatte, ging er erst gar nicht hin. Dann hing er lieber auf dem Spielplatz unweit seines Wohnblocks ab, eingedeckt mit Bierflaschen aus dem väterlichen Vorrat. Kevin war vierzehn und wenn er so weitermachte, war es fraglich, ob er seinen Hauptschulabschluss schaffen würde.
Deshalb bestellte die Klassenlehrerin Frau Bachmeyer zum Elterngespräch in die Schule.
Jasmin Bachmeyer ahnte, dass es nicht um eine Belobigung für ihren Sohn ging. Sie schlich über den tristen Schulhof, vorbei an Abfallbehältern, neben denen achtlos hingeworfene Bananenschalen, Apfelbutzen, oder auch Zigarettenschachteln lagen. Jasmin nahm diese Unordnung nicht wirklich wahr, genauso wenig wie den Wind, der an ihrer Jacke zerrte. Sie starrte auf die Fahrradständer, an denen Blech an Blech gekettet stand. Irritiert fiel ihr Blick auf die weißen Striche, mit denen der geteerte Schulhof aufgepeppt worden war. Ein Irrgarten? Sie wusste nichts damit anzufangen. Genausowenig wie mit dem modernen Kunstwerk mitten im Hof, auf dem jede Seite von einer anderen Errungenschaft unserer Demokratie kündete: Freiheit, Toleranz, Freude, Geborgenheit. Schlagwörter, mit denen die Kinder im Kunstunterricht bombardiert worden waren. Begriffe, die für die Schüler über die Kunst erfahrbar gemacht werden sollten und von denen die Kinder letztlich doch nicht viel verstanden.
Jasmin erinnerte sich an ihre eigene Schulzeit und die damit verbundenen negativen Erfahrungen. Sie kam sich klein vor, als sie jetzt über den Schulhof ging. Doch ganz im Gegensatz zu ihrem Empfinden straffte sie ihren Körper, nahm die Schultern zurück und zog schwungvoll die schwere Tür auf. Gleich darauf stand sie im wenig einladenden Eingangsbereich, der sich am Ende des Flurs zur Aula weitete. Am anderen Ende lag das Lehrerzimmer, in dem ihr Gespräch stattfinden sollte.
Auf ihr mutiges Klopfen, ertönte ein energisches „Herein!“
Sie trat ein und sah sich der Klassenlehrerin ihres Sohnes gegenüber. Die Lehrerin hieß Frau Mareike Hübschmann und hielt sich für eine erfahrene Pädagogin. Frau Bachmeyer sah gleich, dass sie in ihrem Alter war und so erfahren gar nicht sein konnte.
„Kommen wir gleich zur Sache“, begann die Lehrerin ohne Umschweife und ohne Jasmin Bachmeyer einen Platz anzubieten. Jasmin kam sich vor, wie ein dummes Schulmädchen, als wäre sie es selbst, die jetzt eine Rüge erhielt.
So ähnlich war es aber auch. Denn die Lehrerin sah hinter den Unartigkeiten ihres Schülers eine Pflichtverletzung der Mutter. Offen, oder heimlich gab sie ihr die Schuld an der ganzen Misere. Laut sagte sie das nicht so direkt. Mareike hatte Kevin nun schon seit zwei Jahren im Unterricht und konnte ihn deswegen ziemlich gut beobachten. Von Anfang an fiel Kevin durch ausgesprochen aufsässiges Verhalten auf. In der Regel war so ein Verhalten auf die mangelnde Erziehung im Elternhaus zurückzuführen. Kurz, sie hatte den Verdacht, dass die Eltern ihn vernachlässigten.
„Ihr Sohn hat allein im letzten Monat fünfmal die Schule geschwänzt! Wussten Sie davon?“ Die Lehrerin donnerte die Worte der armen Jasmin entgegen, als wollte sie die junge Frau damit zerschmettern. Instinktiv zog Jasmin den Kopf ein. Sie ließ sich jetzt auch ohne Aufforderung einfach auf einen Stuhl gleiten.
Mareike sah es missbilligend und dachte sich, dass die junge Frau keinen Anstand hatte, weil sie sich ungefragt einfach hinsetzte.
„Nein“, entgegnete Jasmin tonlos. „Ich hatte keine Ahnung.“
Mareike Hübschmann gönnte ihr kein Mitleid. Im Gegenteil, das bestätigte sie nur in ihrem Verdacht, dass die Eltern das Kind total verwahrlosen ließen.
„Dann kümmern Sie sich gefälligst um ihren Sohn. Der macht was er will. So geht das nicht. Sie müssen ihm Grenzen setzen.“
Jasmin seufzte. Sie wusste nicht wie. Aber das traute sie sich nicht zu sagen. Innerlich dachte sie sich: da läuft was total falsch. Die geht mit mir um, als wäre ich schuld. Als wäre ich das dumme Schulmädel. Aber hallo, ich bin die Mutter. Ich brauche keine Standpauke.
Mareike Hübschmann musterte die junge Frau und bildete sich ihr Urteil. Na klar, dachte sie. Hartz IV Empfängerin, dem Staat auf der Tasche liegen und nichts gebacken kriegen. Ist doch wieder mal typisch! So wie die schon aussieht! In ihrem Proleten-Look, im 3-Euro-T-shirt von KIK!
„Sie müssen doch merken, dass ihr Sohn nicht in die Schule geht?“, hakte sie noch mal nach.
Jasmin starrte ihr Gegenüber an. Die mit ihrer Designer-Jeans, dachte sie. Das was die da an ihrem dicken Hintern trägt, hat mehr gekostet, als ich im ganzen Monat verdiene. Wahrscheinlich hat sie neben dem dicken Lehrerinnen-Gehalt auch noch einen Mann, der die große Kohle einsackt. Für die bin ich doch nichts.
„Wenn das so einfach wär“, begann sie dann doch. „Muss jeden Tag um sechs Uhr auf Arbeit. Da krieg ich nicht mit, wenn der Bengel länger schläft und nicht in die Gänge kommt.“
Mareike schluckte. Na gut, nicht Hartz IV, aber mit der Nummer, ich bin die Mutti, die sich fürs Kind kaputtarbeitet kommt sie bei mir auch nicht durch.
„Vielleicht ihr Mann?“, fragte sie vorsichtig an.
Jasmin bekam einen Hustenanfall. „Der… der kommt auch nicht in die Gänge. Hat seine Arbeit verloren und jetzt sitzt er zu Hause rum und trinkt den ganzen Tag.“
Das hätte sie lieber nicht sagen sollen. Mareike streckte sich, Sie schlug die Beine übereinander. Ihr Weltbild war wieder in Ordnung. Habe ich mir doch gleich gedacht. Wenn nicht die Frau, dann eben der Mann. Assi-Familie halt. Sie beugte sich vor.
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