„Du bist ein verblendeter Idiot.“
„War ich das - oder bin ich das?“
„Hör sofort auf, Karas. Noch ein Wort und ich berufe den Familienrat ein. Willst du das wirklich?“
Die Frage schien ihren Zweck zu erfüllen. Denn die Antwort war ein lang gezogener, ernüchterter Laut: „Aaargh.“
„Na also“, erleichtert atmete Ra'un aus und ließ sich neben Karas auf den Sand fallen.
Ein aufkommender, leiser Wind blies die feinen Körner in ihre Gesichter. Bewegungslos hielten sie dem stand bis es schmerzte. Die zunehmende Dunkelheit verbarg langsam ihre Mienen. Sie brauchten sich nicht zu sehen, um zu wissen, was in dem jeweils anderen vorging.
„Shana handelt und denkt so anders. - Ich weiß oft nicht, was ich tun soll.“
„Sie liebt dich.“
„Sie will ständig fort.“
„Gibst du ihr Grund dazu oder ist unser Leben zu hart für sie?“
„Nein! Nein. Das kann nicht sein. Ich könnte ihr niemals willentlich wehtun. Bei allem, was ich über ihr vorheriges Leben weiß und von ihr gehört habe, müsste sie sich in unserem Lager verwöhnt vorkommen.“
„Bei deinem Dickschädel bezweifle ich das sehr.“
„Das sagst ausgerechnet du? - Nein, sie hat wahrscheinlich sogar einen größeren Dickschädel als du.“
„Wieso?“
„Sie will unbedingt fort, ihre Sippe suchen.“
„Du, du hast ihr nichts gesagt?“
„Was sollte ich ihr sagen? Aus diesem dreckigen Karais war nichts mehr herauszuprügeln. Er wusste wirklich nicht, ob die Sklavenjäger Arkani erbeutet hatten oder nicht. Selbst seine Tochter brachte ihn nicht zum Reden.“
„Hör auf! Mir wird sonst schlecht.“
„Du bist zu zart besaitet.“
„Ich glaube nicht! Nur manches will man gar nicht so genau wissen!“
Ohne weiter auf die kritische Haltung Ra'uns einzugehen, fuhr Karas fort: „Es gibt nichts Neues. Nichts, was wir nicht schon wussten.“
Sie schwiegen wieder.
Die Kälte kam schnell in dieser Nacht. Sie kühlte ihre erhitzten Gemüter endgültig ab. Als sie zu frösteln anfingen, meinte Ra'un: „Karas, lass dich nicht so sehr von Angst leiten.“
„Angst?“
„Ja, Angst“, bestätigte er und fuhr nach einer Pause fort: „Nie zuvor habe ich dich so erlebt. Aber seit du Shanas Schicksal mit dem deinen verbunden hast, hast du Angst. Und Angst ist auch der Grund, warum du sie überhaupt verdächtigt hast. Du bist verwundbar geworden.“
Karas versuchte gegen den Kloß in seinem Hals anzuschlucken. „Wer sagt das?“
„Nur ich, kleiner Bruder. Nur ich und deine Mutter.“
„Waaas?“
„Wem glaubst du, etwas vormachen zu können? Wir kennen dich und wissen, dass dich nichts wirklich aus der Fassung bringen kann. Nichts, bis auf Shana.“
„Was denkt Vater?“
„Vater stellt sich blind oder du weißt es vor ihm besser zu verbergen. Wie immer, kriegt er nur mit, was er mitkriegen will. Und er hat dich seither nicht kämpfen sehen. Deine Brutalität ist langsam selbst für mich zu viel.“
Statt einer Antwort stand Karas auf und ging zu Leila.
Sie schwangen sich auf die Pferde und ritten in langsamem Schritt zurück. Die gleichmäßige Bewegung der Tiere vertrieb die letzte Anspannung. Sie setzten ihr Gespräch in einem plaudernden Ton fort: „Was wirst du tun? Ich meine - was wirst du mit Shana tun?“
„Was wohl?“
„Sei vorsichtig.“
„Ra'un, du kennst mich.“
„Eben drum. Deine Liebe kann wehtun.“
„Und deine auch. Aber ich sagte bereits, ich werde ihr niemals willentlich Schmerz zufügen.“ Mit dieser Bemerkung rieb er sich ein weiteres Mal am Kinn.
Ihre Auseinandersetzung war beendet. Beide Brüder wussten, dass sie diesen Punkt nie wieder klären müssten. Auf dem Rest des Weges tauschten sie eher scherzende Bemerkungen aus.
Ihre Rückkehr ins Lager wurde von vier Augen verfolgt. Zum einen wartete Kari im Schatten ihres Zeltes. Sie hatte sich so vor das Zelt gesetzt, dass sie genau den westlichen Bereich des Lagers mit dem Pferdepferch beobachten konnte, aber selbst vollständig mit dem Schatten der Zeltwand verschmolz. Es reichte ihr, die Silhouette ihrer Söhne zu sehen, um beruhigt in das Innere ihres Zeltes zu schlüpfen.
Shana dagegen hatte mit Karas Aufbruch eine tiefe Unruhe erfasst. Sie war aufgestanden, sobald sie den Hufschlag der davon jagenden Pferde vernahm und hatte sich vor das Zelt gesetzt. Nach einer Weile suchte sie eine Beschäftigung für ihre Hände. Sie fand nicht genug Ruhe, um irgendetwas auszubessern oder herzustellen. Sie nahm alle Krüge hoch, um den Wasservorrat zu kontrollieren und schließlich ging sie trotz der Dunkelheit Wasser holen. Für sie war dies die einzige halbwegs normale Tätigkeit. Allein der aufsteigende Geruch der Wasserstelle befreite ihre Sinne.
Wie einfach war ihr Searcherdasein gewesen. Wie klar waren die Regeln: Wasser finden hieß Leben, es nicht zu finden hieß Tod. Seit sie hier lebte, stieß sie dauernd auf neue Anforderungen und Regeln. Recht und Unrecht lagen so nahe zusammen, waren so sehr von dem eigenen Standpunkt bestimmt oder auch nicht. Dieses verdammte Prinzip der physischen Stärke, die die Hathai für Sicherheit hielten und auf die sie sich so sehr zu verlassen schienen. Draußen, in der Wüste, zählten andere Dinge: die Fähigkeit unsichtbar zu sein, die richtige Einschätzung der eigenen Reserven oder die Leidensfähigkeit. Sie bezweifelte, dass einer der jungen Krieger sich bei einer Wassersuche bewährt hätte, dies traute sie eigentlich nur einem zu: Handar.
Allein der Gedanke an den liebenswürdigen, kräftigen älteren Mann, dem sie nicht nur im wahrsten Sinn ihr Leben verdankte, erfüllte sie mit Sehnsucht nach der Harmonie, die sie in seiner Nähe immer gespürt hatte.
Hätte sie es nur geschafft, rechtzeitig dieses Lager wieder zu verlassen. Wäre sie ihm nur nie begegnet! Wie viel Schmerz wäre ihr erspart geblieben? - Yambi, oh geliebte Yambi, – wie recht du hattest: Männer machen nur Ärger.
Seit sie Karas zum ersten Mal gesehen hatte, verstand sie immer mehr, was Yambi in den Vollmondnächten hinaustrieb oder warum sie an manchen Tagen so unausstehlich launisch war. Diese elende Sehnsucht nach einem Geschöpf, das einen so in Abhängigkeit stürzte und so wenig für den Alltag taugte, das befremdende Angst und Schmerz in das Herz brachte, die sie vorher nicht kannte. Sie fühlte sich gebunden. Mit Fesseln, die ihr unlösbar vorkamen und die doch niemand sah. Wie oft waren ihr die Kehle und die Brust wie zugeschnürt? Wie oft machte schon eine zufällige Berührung von ihm sie vollständig hilflos? In seiner Gegenwart war es sogar schwer, klar zu denken. Es musste einen Ausweg geben! Wie hatte Yambi gesagt: „Im Zweifelsfall musst du dein eigenes Herz töten, um zu überleben.“
An der Quelle ließ sie das spärlich rinnende Wasser über ihre Handgelenke rinnen. Das Gefühl von Leben, Freiheit, Erfolg, Lachen und nochmals - Leben. Sie sog den Geruch der Quelle ein, lauschte den Geräuschen der Nacht, genoss das Plätschern des Wassers, während sie den Krug füllte. Nach Tagen der Entbehrung war dies stets der Himmel gewesen. Immer!
Ihr Herz blieb nicht bei diesem Frieden. Es zwang sie, auf die Laute von dort draußen zu lauschen. Wann ertönte der ersehnte und gefürchtete Hufschlag? Verärgert bemerkte sie, wie stark sie sich vor dem fürchtete, was sie gleichzeitig ersehnte.
Dann stand sie auf, schulterte den schweren Krug und ging zurück.
Warum tat sie das eigentlich? Was erwartete sie?
Nichts! Jedenfalls hatte sich dort nichts verändert. Sie stellte den Krug ab und ging gestikulierend hin und her, wie ein gefangenes wildes Tier. Wie erbärmlich! Vor Wut über sich selbst, biss sie sich in den Arm.
„Was machst du?“
Wie konnte allein seine Stimme so viel Erleichterung und Ärger gleichzeitig auslösen.
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