„Ich will nicht, dass er glaubt, ich sei geflohen. Ich gehe nicht heimlich von ihm. Bei allem, was mir heilig ist. Ich fliehe nicht!“
Ein tiefes, bis dahin fast unbekanntes Gefühl der Einsamkeit überfiel sie. Sie musste mit jemandem reden. Jetzt.
Kurz entschlossen ging sie zu Kari.
Sie tranken gemeinsam Tee und schwatzten über belanglosen Klatsch.
„Rubea ist schon wieder schwanger“, seufzte Kari.
Shana entging der Blick, mit dem sie bei diesen Worten Shanas Leib musterte, nicht.
„Da wird sie sich aber freuen“, entgegnete sie kühl.
„Oh nein, was redest du? Das ist viel zu schnell. Besonders jetzt, wo der Rat zurzeit darüber berät, ob wir vor der Regenzeit das Lager wechseln.“
Wie? Hatte sie gerade richtig gehört? Warum wusste sie nichts davon? Sie wollte sich nichts anmerken lassen und fragte: „Fürchtet Rubea, sie könnte die Strapazen nicht aushalten?“
„Nein, eher nicht. Aber sie war beim letzten Mal sehr launisch und empfindsam. Doch so was muss sich ja nicht wiederholen. Sie ist ja sonst so ein liebes, unkompliziertes Ding.“ Lächelnd, sinnend starrte Kari ins Leere.
Shana verspürte einen heftigen Stich in ihrer Brust. Rubea war die mit Abstand schönste Frau, die sie selbst je erblickt hatte. Ihr Anblick war einfach unvergleichlich. Sie war eine Mischung aus schillernder, rassiger Erscheinung und wandelndem Engel. Sie besaß ein ebenmäßiges, zartes Gesicht, trotzdem feurige Augen und eine Lockenpracht, die ihresgleichen suchte. Die vollendeten Formen ihres Körpers waren selbst unter der weitesten Tunika zu erkennen und sie bewegte sich mit einer Anmut, dass man hätte glauben können, sie würde den Boden kaum berühren. Dazu kam eine liebevolle Sanftmut und ein scheues Lächeln, das einen jeden sofort für sie einnahm. Selbst ihre Stimme hatte einen freundlichen, hellen Klang. Und Shana wusste, diese Schönheit hatte einmal Karas Herz erobert.
Sie schluckte und murmelte mit belegter Stimme: „Kari, darf ich dich etwas fragen?“
„Aber immer doch, mein Schatz.“
„Was war das mit Rubea und Karas?“
„Oh, davon weißt du gar nichts?“
„Nein.“
„Tja, dann. Warum nicht? - Arak und Karas waren als Kinder unzertrennlich. Zusammen fühlten sie sich sogar den Älteren überlegen und ließen keine Gelegenheit aus, anderen Streiche zu spielen. In der Zeit, als es ihre Aufgabe war, die Ziegen zu hüten, wusste man nie, was dabei heraus kam. Selbst in der Zeit ihrer ersten Besorgungsritte, war das so. Ra'un und Machud haben oft genug darunter gelitten. Dann haben sie bei einem der großen Hathaitreffen beide Rubea gesehen. Karas war sofort entflammt. Er wusste gar nicht genug Blödsinn anzustellen, nur um ihr zu imponieren. Doch sie hatte nur Augen für seinen ruhigeren Freund. Du weißt sicherlich, wie so etwas ist.“
„Ja – ich versteh schon“, antwortete Shana mechanisch und log damit zum ersten Mal absichtlich. Gar nichts wusste sie. Gar nichts hatte sie von den Gefühlen zwischen Jungen und Mädchen gelernt. Wo denn auch? Sie hatte gelernt, wie sie den Wind befragen konnte und wie der Sand ihr verriet, wo es feuchter sein könnte, wie in dem Zusammenspiel von Wind und Sand der Horizont verriet, wo die Landschaft sich änderte. Sie hatte gelernt, nur ihren Kräften und ihrem Gespür zu vertrauen. Lange bevor sie die Frauenreife erlangt hatte, hatte sie die Verantwortung für die Versorgung Yambis und der Kinder übernehmen müssen. Nichts wusste sie von den anderen Dingen, von dem Leben in der Hütte, wenn man älter war. Von der Suche nach einem Partner. Diese Themen hatten in ihrem Leben keinen Platz gehabt. Sie war für sich allein, bis sie mit Handar in das Hathailager kam und dann nach Tagen einem jungen Mann gegenüber stand, wenig älter als sie selbst, der von seiner Mutter belehrt wurde und mit anderen jungen Männern im Wettstreit auf Pferden ritt, seine Kräfte maß oder jagen ging und sich nicht darum kümmerte, wo das Wasser herkam. Dafür war das Lager ja an einer Oase.
Dass er sich ihr gegenüber sonderbar verhielt, hatte sie nicht übersehen können. Und wie verwirrt sie war, wenn er in der Nähe war und ihr manchmal heiß wurde, wenn er sie ansah, ach was, anglotzte ... Es schien ihr jetzt so lange her zu sein. Verdammt, wo war er? Sie spürte ein schmerzliches, heißes Ziehen in ihrem Körper, spürte, wie sehr sie ihn vermisste. Sie wünschte, sie könnte Kari fragen? Stattdessen hörte sie sich fragen: „Wie ging es dann weiter?“
„Nun ja – Arak und Karas sind in die Wüste geritten und haben die Entscheidung gesucht. Als sie zurückkehrten, verließ Karas jedes Lagerfeuer, an dem Rubeas Name erwähnt wurde und Arak wählte sie zur Frau. Die Sache war erledigt.“ Verträumt schauten sie in das glimmende Feuer.
„Oh, es ist spät geworden, ich gehe lieber wieder in unser Zelt.“
„Schön, dass du das sagst. Ich habe diese Worte noch nie bei dir gehört. 'Unser Zelt'. Das freut mich.“ Sie umarmten einander und Shana ging.
Jedoch ging sie zuerst zu Lalee. Bei den Pferden war alles in Ordnung. Wie in der letzten Zeit häufig, fehlten ein paar. Darauf hatte sie in den vergangenen Tagen gar nicht geachtet. Es waren also mehr Männer unterwegs.
Wie lange sie später auf dem Lager lag, zwischen Wachen und Schlafen hin und her pendelnd, vermochte sie nicht zu sagen. Mit einem Mal rissen laute Rufe sie aus dem dämmrigen Zustand. Hoffnung keimte auf, dass der Lärm draußen die Rückkehr der Männer verkündete. Hastig stand sie auf, ordnete mit raschen Bewegungen ihre Kleider und lief aus dem Zelt, um die Ursache des Lärms zu erkunden.
Was sie vorfand, war alles andere als die Freude über die Rückkehr einiger Reiter. Männer, Frauen und Kinder waren in der Nähe des Ratsplatzes zusammengekommen und redeten aufgeregt durcheinander. Shana bahnte sich den Weg zwischen den Umstehenden und starrte ungläubig auf das Geschehen. Offenbar sollte eine öffentliche Bestrafung stattfinden. Einer der älteren Jungen, sie glaubte den jungen Amas zu erkennen, kniete mit bloßem Oberkörper in der Nähe des Ratsplatzes auf dem Boden. Ragas, sein Vater, stand hinter ihm und zog eine Peitsche durch seine Hand. Sichtbare Angst zeichnete das Gesicht des Knienden. Dann schloss der Junge die Augen und sagte mit lauter, aber zittriger Stimme: „Ich habe gegen die Regeln verstoßen und bitte um Vergebung.“ Er beugte sich kniend vor und berührte mit der Stirn den Sand. Ragas holte aus und ließ knallend die Peitsche über den Rücken seines Sohnes fahren.
Shana erstarrte für einen winzigen Augenblick, dann verhinderte nur Karis Arm, dass sie vorwärts stürmte.
„Das geht dich nichts an. Sie befolgen nur das Gesetz. Bleib ruhig und lass es dir eine Lehre sein“, raunte Kari ihr ins Ohr.
Mit Entsetzen verfolgte Shana, wie die Peitsche immer wieder über den Rücken von Amas schlug, wie sich blutige Spuren auf seinem Rücken zeigten. Erst nach sechs grauenhaften Hieben ließ sein Vater von ihm ab.
Shana schloss die Augen. Amas letzter Aufschrei gellte in ihren Ohren. Nie würde sie diesen Laut vergessen können. Und Kari hielt ihr mit fester Hand den Mund zu, während sie sie von dem Platz fort zog. Shana riss ihren Kopf herum und sah, wie Ragas sein Gesicht zum Himmel wendete, dann den Kopf sinken ließ und als gebeugter Mann in sein Zelt ging. Die Peitsche lag wie eine getötete Schlange neben Amas, der immer noch zitternd und blutend am Boden kauerte. Die Umstehenden verließen einfach den Ort des Geschehens. Shana zitterte im ganzen Körper. Mit einer für sie selbst unerklärlichen Kraft stieß sie Kari von sich und eilte zu ihrem Zelt.
Kari folgte ihr: „Shana! Amas hat gegen die Regeln verstoßen und wusste, welche Bestrafung er dafür erhalten würde.“
„Ihr seid Barbaren“, brüllte Shana außer sich vor Abscheu.
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