Die Worte hagelten wie Schläge auf sie ein. Betroffen schwieg sie und schloss die Augen. Sie atmete mehrmals hörbar tief ein und aus, bevor sie antwortete: „Dann gehe ich!“
Die letzten Worte sprach sie mit einer tonlosen Ruhe, die keine Deutung an der Ernsthaftigkeit ihrer Aussage ließen.
„Shana, ich warne dich ein einziges Mal. Meine Familie wird eher verlangen, dass ich dich mit Gewalt zurückhalte, als dass sie dich allein in die Wüste ziehen lässt. Ich werde dich nicht ziehen lassen! Und ich schwöre dir, eher verprügele ich dich, als dass ich dich dem sicheren Tod überlasse.“ Er stockte kurz, bevor er fortfuhr: „Lass es nicht darauf ankommen!“
Diese Drohung hinterließ keinen Zweifel. Eine eisige Kälte durchströmte Shana allein vom Klang seiner Stimme. Wie konnte er ihr so drohen?
Sie standen einander gegenüber, der Nachtwind bauschte ihre Gewänder und der aufgehende Mond malte eine Silhouette, von der man hätte glauben können, sie führten einen langsamen Tanz auf. Die nächtliche Kälte kroch rasch näher. Sie standen in den Weiten der Sandhügelketten, zwei getrennte Lebewesen in der unendlichen Einsamkeit.
„Seit ich dich kenne, weine ich“, schrie sie.
Und er antwortete: „Seit ich dich sah, leide ich mit dir.“
Ihre noch immer brennenden Augen wollten keine Tränen mehr hergeben. Sie rang die Hände, schüttelte stumm den Kopf und öffnete die Lippen zu einem lautlosen Schrei. Er sah ihr bei ihrem seltsamen, verzweifelten Ringen zu und konzentrierte sich auf seinen Atem, um die innerliche Ruhe zu erreichen, die ihm zu eigen war, wenn es darauf ankam. Er wartete. Inzwischen standen die Pferde dicht hinter ihm und boten ihm Schutz vor den nächtlichen, kalten Winden. Er schien eins mit der Landschaft zu werden, stoisch, nur seine Kleider vermochte der Wind zu bewegen.
Der Mond hatte seine Bahn angetreten und die unendliche Schar der Sterne war am Firmament zu sehen. Die gewaltige Größe der Leere, die Shana früher ein Gefühl von Geborgenheit gegeben hatte, versprach ihr jetzt nur, dass sie sich verlieren würde, wenn sie sich dieser Weite überließ. Jäh fuhr die schmerzvolle Erkenntnis in sie, dass er Recht haben könnte. Hier draußen war niemand mehr für sie. Sie war ein Teil seiner Welt geworden und niemand hatte sie dazu gezwungen. Jetzt war sie ein Teil dieser beengten Welt des Lagers und ihrer Gesetze. Mit vom Schmerz gebrochener Stimme hauchte sie: „Kann ich Lea denn gar nicht helfen?“
„Nicht, indem du dich gegen alle und alles stellst.“
Versonnen dachte sie über diese Antwort nach, dann wollte sie wissen: „Wirst du mir helfen?“
„Dafür stehe ich, mit meinem Leben.“
Da kamen die Tränen wieder, heiß und leise diesmal und der Mond ließ sie silbern auf ihrer Haut schimmern. Er bewegte sich ganz langsam, ganz weich auf sie zu, nahm sie in die Arme, küsste sie mit unendlicher Zärtlichkeit in dieser grenzenlosen Weite.
„Shana, mein Leben!“ Worte, so leise, dass selbst der Wind lauter war und doch hörte sie ihn klar und deutlich.
Heute wurde sie wirklich seine Frau.
Er nahm sie vor sich auf Leilas Rücken, um sie zu wärmen und ihr gleichzeitig ganz nah zu sein. Sie wurde sich dieser Nähe auf bisher ungekannte Weise bewusst und genoss sie. Lalee trottete einfach hinter ihnen her.
Im Lager war alles friedlich, aber Shana wusste nun, dass dieser Friede nur den äußeren Schein darstellte. Sie starrte zu Robens Zelt hinüber, bis Karas sie sanft in ihr Zelt schob. In dieser Nacht schlief sie in seinen Armen ein und er war dabei zum ersten Mal ihr Schutz, den sie vollkommen annahm. Doch am Morgen war ihr elend und sie mochte nichts essen.
Lea kam acht Tage später wieder aus ihrem Zelt. Die dunklen Flecken waren kaum zu erkennen und man musste schon wissen, wonach man suchte, um sie überhaupt zu bemerken. Ihre Schritte tänzelten leicht und man hätte meinen können, ein unbeschwertes junges Mädchen vor sich zu haben.
Einige Tage später vertraute sie sich Shana an. Ja, Roben hatte sie im Streit geschlagen. Sie hatte ihm mehrfach widersprochen und sich dann geweigert, mit ihm zusammen zu sein. Sie war wütend auf ihn gewesen, weil er stets wortlos wegging und ihr, wenn er zurückkam, mit keinem Wort erzählte, wo er war. Da sie durch ihre Freundschaft mit Shana begierig geworden war, mehr von der Welt dort draußen zu erfahren, hatte sie versucht, mit ständigen Bitten seine Zunge zu lockern. Er hatte sie beschieden, dass er mit ihr über ihr gemeinsames Leben reden würde, jedoch keine Lust habe, ihr alles zu erzählen, was er sonst noch tat. Dadurch fühlte sich Lea verletzt. Sie verhielt sich absichtlich abweisend ihm gegenüber. Eines ergab das andere. Als er dann nach ihr gegriffen hatte, hatte sie seine Hand immer wieder zur Seite geschoben. Da rastete er aus und machte mit ihr, wonach ihm der Sinn stand. Doch statt zu schweigen, jammerte sie und er befahl ihr aufzuhören. Sie jammerte nur lauter. Schließlich schlug er sie, so lange bis sie schwieg. Seitdem gehorchte sie wortlos und war froh, dass er ihr nicht verboten hatte, Shana zu sehen. „Wenn ich gehorsam bin und ihn bitte, ist er sehr freundlich und sanft zu mir“, beendete Lea lächelnd flüsternd ihren Bericht.
Shana dachte an Karas Worte, dass sie sich nicht einmischen dürfe und froh sein solle, dass ihr heimlicher Besuch nicht bekannt geworden war. Also presste sie die Lippen aufeinander. Stumm nahm sie die Freundin in die Arme und wiegte sie. „Oh, bitte nicht. Nicht Shana, wir sind hier für alle sichtbar und es ist keine Frauenzeit!” Verlegen kichernd wies Lea sie von sich.
Shana ließ ernüchtert ihre Arme sinken und schüttelte traurig den Kopf. „Ich fasse es nicht. Was für eine Welt? Was für eine Welt?“, murmelte sie vor sich hin, reckte ihr Kinn und noch leiser fügte sie hinzu: „Ich kann, ich will und ich werde mich nicht damit abfinden.“
Um sie abzulenken fing Lea an, von den Blüten, die sie an der Quelle entdeckt hatte und die einen neuen Abschnitt des Jahres verkündeten, zu erzählen. Nebenbei erwähnte sie, dass das Wasser spärlicher aus der Quelle kommen würde. „Die Ältesten werden beraten müssen, wann wir eine andere Oase aufsuchen werden. Sicher wird ihr ehrwürdiges Verantwortungsgefühl für das Wasser und unsere Familien ihren Beschluss bestimmen.“
Shana sah sie verständnislos an. Wieso mussten sie auf die Entscheidung alter Männer warten?
Tatsächlich gab es bald mehr Ratsversammlungen. Immer häufiger trafen die Männer sich, berieten die Lage des Lagers, fassten Beschlüsse, erzählten die Geschichten früherer Zeiten. Oft saßen sie bis in die tiefe Nacht zusammen. Häufig brachen am nächsten Morgen kleinere Trupps meist jüngerer Männer auf und ritten für mehrere Tage fort.
Wenn sie zurückkehrten, brachten sie neben den üblichen Lebensmitteln Nachrichten über ungewöhnliche Zeichen mit, die sie in der Landschaft entdeckt hatten. Sie berichteten von Karawanen, die wie erwartet vorbeigezogen kamen und von solchen, nach denen sie vergeblich Ausschau gehalten hatten. Ab und zu fiel das Wort 'Sklavenjäger', doch sie vermieden es, darüber ausführlicher zu sprechen, insbesondere wenn sich eine weibliche oder jüngere Person in der Nähe befand.
Wenn Karas fort war, verließ Shana des Öfteren das Lager. Ging allein in die Wüste hinaus, prüfte den Sand und den Wind. Sie war sich bald sicher: in diesem Jahr würden die Wolken wieder nur am Horizont vorbeiziehen und sich einfach im Meer des bleifarbenen Sonnenhimmels auflösen. Der Regen würde wieder ausbleiben.
Außer Shana gab es nur zwei weitere Frauen, die sich selbst um ein Pferd kümmerten und manchmal das Lager über einen längeren Zeitraum auf dem Rücken ihres Pferdes verließen. Die eine war fast so alt wie Kari und sehr wortkarg. Ihr Name war Marumata und sie war so etwas wie die weise Frau des Lagers. Sie beteiligte sich nicht an Tratsch und Klatsch, blieb meist für sich und war die Frau, die manchmal von einem Mann offiziell um Rat gefragt wurde.
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