Einen Moment starrte Shana sie ungläubig an, dann protestierte sie lautstark: „Das kannst du doch nicht ernst meinen! Immer hast du mir geholfen, zu mir gehalten und deinen Sohn ausgeschimpft und bei Lea sagst du, das sei ihre Sache. Sie fürchtet sich vor Roben!“
„Still! Schrei nicht so laut 'rum. Du willst doch wohl nicht Leas Schande allen verkünden, wenn sie sie selbst zu verbergen weiß.“
„Was heißt hier Leas Schande? Etwas Schreckliches ist passiert und niemand hilft ihr?“
Shana war den Tränen nahe. Das konnte nicht wahr sein. Ihre Freundin lag zerschlagen in ihrem Zelt und mahnte sie dieses Zelt zu verlassen. Ihr Mann hatte versucht, sie von dem Zelt der Freundin fern zu halten und ihre beste Vertraute, die gleichzeitig Mutter ihres Mannes war, riet ihr, sich nicht einzumischen.
In ihrem Zorn sprudelte sie ihre Gedanken hervor und konnte kaum stoppen, bis Kari sie festhielt.
„Shana, du weißt, wie sehr ich dich liebe und ich achte deine Freundschaft mit Lea. Es ist gut, dass sie dir so viel bedeutet. Doch wenn sie Probleme in ihrer Familie hat, müssen wir warten, ob sie den Familienrat anrufen will oder nicht. Und wir werden ihre Entscheidung akzeptieren. Bitte, Mädchen, ich weiß, dass du nicht mit allen Regeln unseres Lebens vertraut bist. - Du weißt nicht, was du getan hast, als du Robens Zeltrecht verletzt hast. Er könnte von Karas verlangen, dich öffentlich zu bestrafen. Diese Schande möchtest du doch nicht über unsere Familie bringen, oder? Es würde Karas das Herz brechen, dich schlagen zu müssen!“
„Was seid ihr nur für Menschen?“, schrie Shana entsetzt. Nie, nie hätte ein Mitglied des freien Volkes von einem anderen geschlagen werden dürfen oder gar jemand anderer verlangt, dass jemand geschlagen würde. Das Entsetzen erfasste Shana so sehr, dass sie sich schüttelte.
Wie von Ferne vernahm sie Karis Stimme: „Shana, Liebes, wir Hathai leben nun mal so. Lea ist Robens Familie und er ist verantwortlich, ob sie stirbt oder lebt, also hat sie ihm Respekt zu zeigen.“
„Das kann doch alles nicht wahr sein! Das kannst du nicht wirklich sagen!“, schluchzend und mit dem Bewusstsein einsam und verlassen in diese Welt geraten zu sein, sank Shana in sich zusammen.
„Komm rein, mein Sohn.“ Kari hatte Karas Schritt vernommen und dieser hatte gewartet, dass er eingeladen wurde, das Zelt seines Vaters zu betreten. Denn seit er sein eigenes Zelt hatte, war er hier Gast und respektierte die Grenze. Sein Gesicht entspannte sich sofort, als er Shana entdeckte. „Ah, gut. Ich habe befürchtet, du wärst in Leas Zelt gegangen.“
„Das bin ich und Lea ist mit blauen Flecken übersät“, krächzte Shana mit gebrochener Stimme.
Karas schluckte heftig, schloss die Augen, schüttelte ungläubig den Kopf und hielt sich die Ohren zu.
„Ich habe ihr erklärt, was sie getan hat“, informierte Kari ihn, als er die Hände wieder herunter nahm, „und ich glaube, sie hat Glück gehabt. Es scheint keiner bemerkt zu haben.“
„Bist du von allen guten Geistern verlassen?“, stöhnte Karas, packte Shana bei den Schultern und zog sie an sich. Er legte schützend die Arme um sie, hob sie hoch, bis ihre Füße den Boden nicht mehr berührten und presste sie an sich. Wie ein kleines Kind, das Erwachsenen einen Schrecken eingejagt hat, hielt er sie. Eine verstohlene, gequälte Träne rann über seine Wangen. „Verzeih Mutter, dass wir dir Kummer bereitet haben!“, sagte er über Shanas Kopf hinweg, bevor er sie wieder auf den Boden ließ.
„Pass besser auf euch auf“, antwortete Kari.
Wie ein verschrecktes Kind, trottete Shana hinter Karas her, der sie an der Hand hielt. Er führte sie zu den Pferden. „Komm. Es wird bald Abend und unter der Weite des Himmels redet es sich besser.“
Mechanisch und willenlos folgte sie ihm und erst als sie Lalees Rücken unter sich spürte, kehrte die Lebensenergie in ihre Adern zurück. Der gleichmäßige Tritt ihrer Stute, der warme Luftzug auf der Haut und die Tatsache, dass sie das Lager hinter sich ließen, klärte wie Karas gehofft hatte, ihre Gedanken. Sie ritten bis die Sonne den Horizont berührte, dann parierten sie durch und stiegen ab, nahmen einander in die Arme. Shana gab sich hemmungslos ihren Tränen hin. Er hielt sie einfach, bis sie aufhören konnte.
Ihre geröteten Augen brannten, als sie ihn anstarrte und fragte: „In was für einer Welt leben wir?“
Mit diesen Worten löste sie sich aus seiner Umarmung.
Ruhig sah er in ihre Augen, dann wies er in einer weiten Geste auf die endlose Wüste, bevor er antwortete: „In dieser Welt. Sieh dich um! Das ist die Welt der Hathai, die seit hunderten von Jahren funktioniert und die Zukunft sichert. Frei unter der Sonne, aber nicht frei von Regeln. Die Lager sind klein, die Clans haben klaren Grenzen, die Familien sind unabhängig. Innerhalb des Lagers entscheiden alle Familienoberhäupter gemeinsam. Die Wanderrouten sind uralt und verlaufen entlang unterirdischer Seen und Wasserläufe. Die Lager der Oasen werden immer nur so stark genutzt, dass die nächste Generation sie noch nutzen kann. Wir verteidigen unsere Plätze, unsere Lebensweise und unsere Familien. Männer sind verantwortlich für das Überleben, auch für das Leben in der Familie. Alle haben Respekt zu zeigen. Wer das Leben gefährdet, wird im wahrsten Sinne des Wortes in die Wüste verbannt. Klare Regeln!“
Einen Augenblick schwieg er, bevor er mit sehr eindringlich warnendem Unterton fortfuhr: „Und sie werden nicht umgestoßen, weil sie einer Freien, die die Verantwortung für einen Ort nicht kennt, nicht passen. Ist das klar?“
„Nein, nein! Nichts ist klar. Eine Frau darf verletzt werden und es kümmert niemand. Über eine Frau darf bestimmt werden, weil sie die Gefährtin eines Mannes wurde. Es ist nicht klar, warum der Stärkere Recht hat. Jeder hat das gleiche Recht. Es ist barbarisch, über andere zu bestimmen. Ja, es stimmt. Die Freien pflegen nicht jahrhundertelang einen Platz. Wir bleiben nie lange an einem Ort. Wer anders denkt, sagt es oder schweigt. Aber bei uns wird niemand in die Wüste geschickt. Wir verletzen andere Menschen nicht. Wir gehen von alleine und kommen mit den Geschenken des Himmels oder der Erde zurück. Diese Geschenke haben wir aber niemandem weggenommen. Am allerwenigsten den 'Oasenfürsten'. Yambi nannte euch so und erklärte uns, wie ihr lebt. Leider habe ich ihr dabei zu wenig zugehört.“
„Was soll das? Deine Sippe ist fort. Da ist niemand mehr, der auf dich wartet“, sagte er barsch. Dann schwieg er eine Weile, in der er sie intensiv anblickte. Schließlich flüsterte er sanft: „Allein dein Anblick hat mich verzaubert, dein Wesen mich berührt, so dass ich jede Auseinandersetzung für dich auf mich genommen habe, weil ich für dich sorgen will.“
„Ich kann für mich allein sorgen“, fauchte sie.
„Kannst du nicht!“, und seine Stimme war wieder hart, „Hör endlich auf zu träumen! Ohne deine Sippe bist auch du in der Wüste verloren. Oder wolltest du etwa in einer Stadt für dich sorgen? Allein der Gedanken ist unerträglich, dich rechtlos auf dem Marktblock zu sehen!“
„Du kannst es aber ertragen, mich rechtlos in deinem Zelt zu sehen?“
„Du bist niemals rechtlos an meiner Seite.“ Jetzt schwang schon eindeutig Zorn in seiner Stimme mit, aber Shana war entschlossen sich davon nicht einschüchtern zu lassen.
„Und was ist mit Lea. Ist sie auch niemals rechtlos?“, zischte sie ihm entgegen.
„Du weißt nicht, was ihr geschehen ist.“
„Tja, wahrscheinlich war es ein böser Geist! Oder sie hat sich selbst geschlagen! Was glaubst du, was es war?“
Einen Moment schwieg er, zwang sich zur Ruhe und antwortete: „Solange sie nicht den Familienrat anruft, geht es mich nichts an und dich schon gar nicht. Aber eines sage ich dir: wenn du dafür sorgst, dass ich dein Verhalten vor dem Familienrat verteidigen muss, geht es mich etwas an!“ Sein Ton war sehr bestimmt geworden. „Es ist meine Aufgabe zu verhindern, dass du die Regeln missachtest. Niemand wird fragen, ist sie tollkühn, weil sie einst zum freien Volk gehörte? Niemand wird sagen, oh ja, sie hat andere Regeln! Du hältst dich besser an das, was meine Mutter versucht hat, dir beizubringen. Weder ich, noch sie oder sonst jemand wird dich schützen können, wenn du öffentliche Schande bringst.“
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