Kari erklärte ihr zwar, was hier gerade ablief, aber mehr als ein aufmunterndes Streicheln über den Kopf und ein paar lachend gesagte Worte kamen nicht dazu. Irgendwann hatte Shana aufgehört zu zählen. Sie wusste nicht, wie viele Frauen im Zelt waren, es waren auf jeden Fall zu viele. Jede einzelne hatte sie begrüßt, ihren Namen gesagt und erklärt, wie sehr sie sich freue, Shana in die Gemeinschaft der Hathaifrauen aufzunehmen. Was um Himmels Willen sie auch immer damit meinen konnten, es klang fremd und bedrohlich.
In den nächsten Tagen lernte sie, dass die Frauen der Meinung waren, sie seien die eigentlichen Bewohner des Lagers und die Männer wären lediglich willkommene Gäste. Shana sollte den Aufenthalt in dem Brautzelt dazu nutzen, sich auf ihre zukünftige Rolle in der Frauengemeinschaft vorzubereiten. Nebenbei würde man ihr einiges über das Eheleben erklären.
„Kari, was soll das? Mich macht dieses Gerede ganz krank. Ich will hier raus“, flehte sie.
„Ach Mädchen, reiß dich zusammen. So schwer kann es doch nicht sein, mal ein paar Tage auf Karas zu verzichten. Komm iss mit uns und hör zu. All die Geschichten, die hier erzählt werden, zeigen dir, wie das Leben mit einem Mann im Zelt wirklich ist. An vieles wirst du dich später erinnern und es wird dir helfen, wenn du weißt, dass du nicht die Einzige bist, die vor solchen Aufgaben steht. ...“
„Sie sind da. Die Männer sind da. Sie haben die Felle und Stangen gebracht“, rief eine Frau, die gerade ins Zelt gestürmt kam.
Was immer Kari noch hatte sagen wollen, war jetzt offensichtlich unwichtig. Sie drehte sich zu einigen anderen älteren Frauen um und gab ihnen einen Wink ihr zu folgen. Shana hoffte, das Zelt würde sich leeren, aber bald musste sie ihren Irrtum erkennen. Die Männer hatten die Materialien für Shanas eigenes Zelt gebracht und Kari begutachtete alles ausführlich. Zufrieden strahlend sagte sie: „Die Jungs haben gut gearbeitet. Ich glaube, sie können mit dem Zeltbau beginnen. Schafft die Häute rein. Wir nähen für zwei Mittelpfosten.“
Im Nu verwandelte sich das halbe Zeltinnere in einen Nähplatz, wo die jungen Frauen nun Hand in Hand arbeiteten. Wieder war es Lea, die Shana half, ihren Platz in der Gruppe zu finden.
Wenige Tage später waren sie fertig und nun verließen die Frauen nach und nach das Zelt. Für kurze Zeit blieb Shana mit Kari allein zurück. Vor Erleichterung begann Shana hemmungslos zu heulen. Sie konnte nicht stoppen, obwohl sie befürchtete Kari würde wütend werden. Umso verblüffter und freudiger nahm sie die liebevolle Begrüßung durch Kari an: „Komm her mein Kind! Ich freue mich so sehr, dich meine Tochter nennen zu dürfen und ich werde mich bemühen, deine Mutter würdevoll zu vertreten.“
Als Kari bemerkte, wie Shanas Körper angespannt blieb, fragte sie: „Du bist nicht glücklich? Was bedrückt dich?“
Sie trat auf Shana zu, ergriff ihre Hände und zog sie zu den Deckenlagern, um sich mit ihr hinzusetzen. Dann fuhr sie besorgt fort: „Kind, habe ich mich so getäuscht? Willst du nicht an der Seite meines Sohnes leben?“
„Doch Kari, schon, aber...“
„Was aber? Hat er etwa deine Ehre verletzt? Ist er so scheußlich zu dir gewesen, dass du nicht an seiner Seite leben kannst? Oder gibt es einen anderen Mann in deinem Herzen, von dem wir hier nichts wissen, und den du vor Karas schützen willst?“
„Nein, nein, nein. Es gibt keinen anderen. Nur meine Sippe! Meine Sippe: Yambi, die Kinder ... Kari, ich muss doch meine Sippe suchen!“
„Klar musst du das! Aber wieso willst du nicht Karas Gefährtin sein?“
Für Kari schien es darin keinen Widerspruch zu geben. Und Karas hatte doch das Gleiche gesagt. Warum also sollte es ein Problem für sie selbst sein? Shana schwieg und spürte ihre innere Unruhe. Wieder hob sie an: „Aber...“
„Was aber? Da ist noch was anderes, was dich zögern lässt. Was ist es?“
„Ich glaube, ich bin mir nicht sicher ... es ist eure Art zu leben. Ich meine es ist nichts falsch an eurem Leben, aber es ist so anders und davor habe ich Angst.“
„Bitte, erkläre mir das genauer!“
„Nun, wo soll ich anfangen? Ähm. Sieh mal, ich war immer frei. Frei zu tun, was ich wollte und wie ich es wollte. Frei hinzugehen, wohin ich wollte und zu reden, mit wem und wann ich wollte. Für mich gab keine Frage danach, wer was tun darf oder sagen darf. Jeder wählt seine Aufgabe nach seinen Fähigkeiten und die erfüllt er. Jeder sagt seine Meinung, wann er will und wem er will. Jeder ist nach seinen Kräften verantwortlich.“
„Ist das bei den Hathai anders?“
„Ja und nein! Es gibt so viele Regeln, so viele Menschen auf einem Haufen. Ich kann das nicht ertragen. Und dann Karas. Karas ist so, so – so bestimmend, so stark. Ich habe Angst, selbst schwach zu werden, wenn ich neben ihm bin. Und manche Dinge, die er sagt oder tut, machen mich einfach nur wütend oder sind verletzend.“
„Dann hat er dir doch etwas angetan?“
„Nein. Es ist seine Art, einfach seine Art, über mich zu bestimmen. Stell dir vor, er sagt mir, was ich tun soll.“
Lachend umschlang Kari Shana.
„Kind, Kind”, lachte sie und wischte sich die Freudentränen von den Wangen, „das ist doch nicht schlimm! Er ist vernarrt in dich und er redet halt, wie die Männer seit ewigen Zeiten reden. Aber er wird dich immer respektieren. Du hast Recht, unsere Freiheit ist anders. Aber eben nur anders. Du wirst das schnell lernen. Außerdem wer sagt denn, dass du diesem Dickkopf nicht Manieren beibringen wirst. Schau mal Shana, nichts von dem, was du gesagt hast, ist ein wirklicher Grund eure Herzen zu verletzen. Und ich bin sicher, dein Herz würde genauso schmerzen, wie das meines Sohnes, wenn du nicht seine Gefährtin werden würdest. Willst du das wirklich?“
„Nein ...“
Trotz Karis Lachen, fühlte Shana sich ernstgenommen. Langsam begriff sie, dass sie einfach Angst vor diesem Schritt in einen neuen Lebensabschnitt hatte. Doch wenn Karas seine bisher ungezügelte Freiheit so leicht für sie hergab, wieso sollte sie es nicht tun können? Sie seufzte, setzte dann aber fast flüsternd nach: „Warum hat Handar gegen mich gesprochen?“
Jetzt war es raus! Auch Kari spürte, dies war der letzte Grund, für Shana zu zaudern. Die Zustimmung Handars war Shana wirklich wichtig. Sie fühlte sich ihm gegenüber verpflichtet. Er hatte ihr Leben gerettet und sie wollte nichts tun, was ihm gegenüber undankbar wäre. Aus echter Sorge und dem Wunsch nicht gegen seinen Willen zu handeln, würde Shana sogar darauf verzichten, ihrem eigenen Herzen zu folgen.
„Es ist seine Rolle, das Herz seines Sohnes zu prüfen“, beeilte sich Kari, sie zu beruhigen. „Wir Hathai machen den Vater des Bräutigams verantwortlich, wenn die Braut unglücklich wird. Dieser Streit war in gewisser Weise ein Ritual, wie es viele gibt. Aber, das kann und will ich dir nicht verschweigen: Handar hat auch aus Sorge um unser Volk gesprochen. Zusätzlich konnte er sich nicht so schnell damit abfinden, dass er erst jetzt von euren Plänen erfuhr. Was aber ganz sicher die wichtigste Rolle für ihn spielt, ist seine Sorge um dein Wohl. Sei dir sicher, du hast längst einen festen Platz in seinem Herzen. So fest, dass er sich schon mehrfach um deine Zukunft Gedanken gemacht hat. Er befürchtet, du könntest bei uns unglücklich werden. Er würde dich und dein Glück jederzeit mit seinem Leben verteidigen.“
Mit dem letzten Satz, konnte Shana zurzeit nichts anfangen. Es würde noch einige Zeit vergehen, bis sie begriff, wovon Kari da redete.
Shana fühlte sich in Bezug auf Handar noch aus einem weiteren Grund sehr bedrückt: „Warum war Karas dann so ausfallend gegenüber allen?“
„Tja. Ich weiß es nicht! Das war tatsächlich zu viel! Er ist ein furchtbarer Dickkopf und hat manchmal sehr schlechte Manieren. Er ist heute viel zu weit gegangen. Ich bedaure es sehr, dir keinen besser erzogenen Sohn zu geben.“
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