Ra'uns Ärger war nicht zu überhören. Das Verhalten seines Bruders würde Folgen für die ganze Familie haben. Er missbilligte Karas Impulsivität und hielt sie sogar für gefährlich. Deshalb wollte er ihn weiter beruhigen und fing in geschäftsmäßigem Ton an, von der vergangenen Reise zu berichten: „Es gibt Wichtigeres. Die Stadtmenschen scheinen ein größeres Problem zu haben. Sie brauchen anscheinend gesunde Frauen. Es gibt kaum Kinder in der Stadt und ich habe nicht eine schwangere Frau dort gesehen.“ Mit diesem Themenwechsel erreichte er sein Ziel.
„Deshalb jagen sie verstärkt nach Sklaven?“, fuhr Karas ernüchtert dazwischen.
„Ja, das könnte gut sein. Auch von den anderen Clans wurden vermehrt Überfälle beobachtet. Meist wurden die Männer getötet und die Frauen verschleppt. Ein paar Karais helfen den Sklavenjägern anscheinend dabei.“
Diese Worte taten ihre Wirkung.
Karas war ganz bei dem Thema: „Haben sie die Lager unserer Brüder überfallen?“
„Im Süden haben sie es versucht, aber unsere Brüder dort waren wachsam genug. Doch im Zweifelsfall hätten wir keine wirkliche Chance. Ihre technische Ausrüstung ist unseren Methoden weit überlegen. Ihre Skrupellosigkeit zahlt sich für sie aus. Alles, was für uns etwas bedeutet, hat für sie nur wenig Nutzen. Sie scheinen immer mehr und immer schneller nur für den Augenblick zu leben, alles zu benutzen, bis es nicht mehr funktioniert und keinen Gedanken an ihre Ahnen oder ihre Nachfahren zu verschwenden. Die Karais gehören seltener zu ihrer Beute, weil sie sie mit dem Luxus des Exotischen beliefern. Über Wasser müssen sich die Meeresstädter keine Gedanken machen. Wasser gibt es für sie, solange die großen Anlagen am Meer arbeiten. Und dennoch stimmt etwas nicht. Die meisten Städter sehen krank aus, obwohl sie alles, was du dir vorstellen kannst und noch viel mehr, zur Verfügung haben. Ich bin mir sicher, wir müssen sie fürchten und unsere beste Verteidigung wird vorerst unsere Unsichtbarkeit und die Unwegsamkeit zu unseren Lagern sein.“
„Was sagt Vater?“
„Zu deiner Vorstellung vorhin? Ich glaube, er ist ernsthaft sauer.“
„Nein, lass das. Was sagt er zu der Situation in den Städten?“
„Er teilt meine Ansicht, aber er glaubt nicht daran, dass uns irgendetwas helfen kann, wenn sie es darauf anlegen. Wie viele andere, meint er, unser Volk sollte entweder die Wanderung durch die Wüste auf sich nehmen oder sich dem Stadtleben anpassen und ihre Lebensart erlernen.“
„Könntest du in der Stadt leben?“
„Niemals! Wenn du schon die Siedlungen der Karais für zu eng hältst, dann hast du in einer Meeresstadt das Gefühl ersticken zu müssen. Wenn du die deinen liebst, dann verlierst du in der Meeresstadt den Verstand.“
„Arak erzählte, dass es sehr unterschiedliche Lebensverhältnisse für die Stadtbewohner gibt. Die Einen, die anscheinend alles haben und sich vor den anderen, die um alles kämpfen müssen, zu schützen versuchen?“
Schweigend registrierte Ra'un, dass sein Bruder mittlerweile wenigstens gelassen Araks Namen aussprach und bestätigte nur: „Ich teile seine Einschätzung. Aber wir verstehen beide Gruppen nicht und sie haben beide keinerlei Achtung vor unsereins.“
„Was werden die Hathai tun?“
„Die Zukunft liegt jenseits der Wüste und der Meeresstädte, die haben ebenfalls keine Zukunft. Die Hathai haben sich auf ihre traditionellen Lebensformen zurück besinnen können, als die übrige Welt durch die Dürrezeiten fast vollständig zerstört wurde. Wir werden weiterhin dann eine Überlebenschance haben, wenn wir die Zukunft in unseren Traditionen suchen. Doch auch wir müssen neue Wege gehen, da die Niederschläge zu selten kommen und unsere Ziegenherden zu viel kahl fressen.“
„Hm.“
Dieses Gespräch setzte andere Gefühle frei. Die Hitze der Leidenschaft war für einige Zeit gebannt und Ra'un lenkte vorsichtig ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Fest. Ihr Clan war schließlich der Gastgeber.
„Komm jetzt!“, setzte Ra'un zum Abschluss an. „Heute geht es um deine nahe Zukunft. Heute Nacht kannst du in meinem Zelt schlafen, aber schnarch nicht!“, mit diesen Worten schubste er Karas lachend in die Seite. Sie standen auf und Ra'un ging voran. Karas warf einen sehnsüchtigen Blick auf das Zelt seines Vaters, aber dann folgte er seinem Bruder.
„Ra'un!“
„Eh?“
„Gut, dass du da warst.“
Das Fest dauerte die ganze Nacht. Und trotz oder gerade wegen des Zwischenfalls, wurde es eine fröhliche, ausgelassene Begegnung. In den tiefen, dunklen Stunden der Nacht ertönten vielfältige Gesänge und die Jüngeren schlugen Rhythmen, zu denen sie ausgelassen tanzten.
Im Laufe der Nacht wurden zwei weitere Hochzeiten angekündigt. Sie entsprachen den allgemeinen Erwartungen. Und unter denen, die ihre gerade geborenen Kinder vorstellten, war auch Arak. Rubea hatte ihm in der angemessenen Zeit einen Sohn geschenkt, den er an diesem Abend stolz präsentierte. Insgeheim seufzte Handar bei dieser Ankündigung erleichtert auf, dass Karas nicht im Festzelt war. Selbst wenn Karas nun sein Herz an Shana verloren hatte, so war Handar sich nicht ganz sicher, ob sein Sohn die Tatsache überwunden hatte, dass Rubea zu seinem engsten Freund gegangen war. Aber es schien ja, als ob Karas bereit war, für Shana alles aufs Spiel zu setzen.
Insgeheim verspürte Handar sogar einen gewissen Stolz auf den Mut, den Karas mit seiner Haltung bewies.
Schon wieder hob sich der Teppich, der üblicherweise den Eingang des Zeltes verschloss, und eine weitere junge Frau schob ihren Kopf hindurch. Wie ihre Vorgängerinnen, hatte sie eine dicke Deckenrolle und ein Bündel dabei, suchte sich lächelnd einen Platz und begann sich einzurichten, als beabsichtige sie, mehrere Tage zu bleiben.
Shana hatte keine Ahnung, was Karas gemeint haben konnte, als er keuchte, sonst müsse sie eine Hathai-Hochzeit aushalten. Das hier, gehörte anscheinend dazu. Seit dem frühen Morgen waren mittlerweile fünf Frauen aufgetaucht, die Shana nur flüchtig kannte. Und Shana erinnerte sich gut, dass mindestens zwei von ihnen sie eine Zeit lang angezischt hatten, wenn sie ihr begegneten.
In den ersten Tagen, die Shana in dem Lager verbracht hatte, verhielten sich viele Frauen ihr gegenüber offen ablehnend. Anfangs hatten sie sie einfach nur nicht beachtet oder zumindest so getan. Als aber Karas heimgekehrt war und sein Interesse an Shana zeigte, hatten sie angefangen, Zischlaute zu machen, wenn sie sich näherte. Sie stoppten dieses Verhalten erst, nachdem Kari es bemerkt hatte und Shana lautstark in Schutz nahm.
Egal! Jetzt, da Kari ihr Zelt zu Shanas Brautzelt erklärt hatte, kamen sie alle, um die nächste Zeit gemeinsam darin zu verbringen. Bald war es so voll, dass Shana glaubte, keine Luft mehr zu bekommen. Von allen Seiten drangen hohe Stimmen in ihre Ohren, es war stickig heiß und die merkwürdigsten Gerüche breiteten sich aus.
Während der Hochzeitsvorbereitungen, so hatte Kari ihr am Morgen erklärt, dürfte Shana das Zelt nur noch für das Notwendigste und dann auch noch möglichst nur in Begleitung verlassen. Wie aber sollte sie das überleben? Hilfe suchend blickte sie sich immer wieder nach Kari um, die davon kaum Notiz zu nehmen schien und stattdessen lachend mit den anderen Frauen schwatzte. Nur eine junge Frau, die freundlich lächelnd, aber meist sehr ruhig unter den anderen saß, schien Shanas Not zu bemerken. Sie bahnte sich einen Weg, um sich direkt neben Shana niederzulassen und bot ihr einfach lächelnd einen Tee an. „Hier, trink und mach die Augen zu, dann wird es besser“, flüsterte sie.
Dankbar gehorchte Shana und tatsächlich, es half ein wenig. Die folgenden Tage kamen Shana wie ein Martyrium vor, das sie sicherlich ohne die Hilfe von Lea, so hieß die junge Frau, nicht durchgestanden hätte. Lebten die Hathai schon normalerweise in einer für Shana schier bedrückenden Enge, so war das hier unerträglich: zu laut, zu eng und von allem zu viel.
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