Ich muss nach ihr suchen. Ich muss sie finden ...“
Küster durfte fahren. Allerdings mit der Auflage, sich sofort nach seiner Ankunft bei der Polizeidienststelle in H. zu melden. Seinen Pass musste er abgeben.
Eine furchtbare Fahrt. Eine Fahrt voller Zweifel und Selbstvorwürfe. Müsse man nicht diese Tests überhaupt verbieten? Alle? Auch den Lüscher? Und erst recht andere, ausführlichere, tiefer gründende? Man kann doch nie ausschließen, dass unter den Teilnehmern jemand ist, in dem eventuelle Ergebnisse Chaos auslösen. Und erst Transaktions-Analyse! NLP! Das neurolinguistische Programmieren! Aufstellungen! Alles letztlich psychoanalytische Instrumente im Schnellstkurs. Zwei, drei Tage - dann ist man Psychiater. Oder legt sich selbst auf die Couch. Zerlegt sich, zergrübelt sich, quält sich mit Selbstmordgedanken. Phantasien kommen hoch. Missbraucht? Früh? Vom Vater? Von der Mutter? Vom Großvater? Wie hätte das gehen sollen? Projiziert man das in sich selbst? Ich bin nicht okay? Du bist nicht okay? War es nicht so? War man zu früh abgestillt worden? Willkommen oder nicht? Zweifel über Zweifel. Metastasen der Seele.
Küster machte sich selber fertig. So fertig, dass er unachtsam wurde. Flüchtete auf einen Parkplatz. Ausruhen. Aber wie? Musik hören? Ging ihm auf den Wecker. Er setzte sich auf den Beifahrersitz, um Johanna zu spüren, die dort gesessen hatte. Suchte nach Spuren. Nach einem Haar, nach einem Haar, das sich in der Kopfstütze verfangen hatte. Er birgt es wie einen Schatz in seinem Taschenkalender. Sucht nach dem Bonbonpapier. Nach Sandresten von ihren Schuhen. Johanna! Dann startete er wieder. Nahm sich vor, nach fünfzig Kilometern wieder Rast zu machen. Immer nur von Etappe zu Etappe zu fahren. Ein Polizeiwagen war hinter ihm. Suchte man ihn? Wie fährt man dann? Superkorrekt? Einfach so? Der nächste Rastplatz. Die Polizei hinter ihm. Lächeln ihn an. Mehr nicht. Irgendwas suchen sie. Aber nicht ihn. Schauen ins Gestrüpp. Laufen ein Stück in den Wald hinein. „Nur Scheißhaufen!“ brüllt einer zurück. Dann fahren sie weg. Küster zerkaut einen Würfel Traubenzucker. Dextroenergen. Er liest den Text der Verpackung und liest ihn doch nicht. Nur so. Verbrauchte Energie. Und Verzweiflung? Verlust?
Küster meldet sich beim Revier in H.. Keine Neuigkeiten. Johanna bleibt verschollen. Einen Schuhabdruck hat man gefunden, neben der Straße, unweit von Lauf an der Pegnitz. Könnte von ihren Joggingschuhen stammen. Dann wäre sie zu Fuß losgelaufen. Autofahrer werden befragt, die nachts von L. nach H. fahren. Ob sie eine blonde Frau gesehen hätten. Mittwoch auf Donnerstag.
Küster quartiert sich im „Wilden Mann“ ein. Und macht sich zu Fuß auf den Weg. Versucht, sich in diese Seele des Mädchens zu versetzen. Verlassen. Enttäuscht. Müde. Hungrig. Verzweifelt. Stolpernd. Sich ängstlich nach Autos umsehend, die sie im Scheinwerferkegel erfassen. Springt sie zur Seite, um nicht gesehen zu werden? Versucht sie, mitgenommen zu werden? Jeden Seitenweg geht er eine Strecke weit ab. Schaut ins Unterholz. In Tümpel. Sandgruben. Läuft und läuft. Kilometer um Kilometer. Bei Anbruch der Dunkelheit joggt er zurück. Erschöpft, übermüdet. Noch ein Bier. Dann ins Bett. Früh am Morgen wieder raus. Mit dem Auto bis zu der Stelle, wo er umkehren musste. Stellt das Autoradio an.
Da! Eine Meldung! Unweit der tschechischen Grenze ist ein Mann neben seinem Auto gefunden worden. In bedenklichen Zustand in Krankenhaus eingeliefert. Starker Blutverlust, Entkräftung. „Die Unterkühlung könnte seine Rettung sein!“ sagt ein Notarzt zur Reporterin. „Es muss einen Kampf gegeben haben. Stichverletzungen im Unterleib. Ausgerissene blonde Haare ...“. Die Kriminalpolizei ist vor Ort. Das Auto ist als gestohlen gemeldet. Ein Mercedes der Oberklasse.
„Ausgerissene blonde Haare ...“ sagt Küster vor sich hin. „Ausgerissene blonde Haare ... ausgerissene blonde Haare?“ Küster startet mit quietschenden Reifen. Zur Polizei in H..
„Haben Sie das gehört? Von dem Mann in dem geklauten Mercedes? Mit den Stichwunden? Ausgerissene blonde Haare! Das Mädchen, Johanna, Johanna Kirchbauer ist blond! Dunkelblond! Verstehen Sie? Wo ist das passiert?“
„Herr Küster, das ist fast 100 Kilometer von hier entfernt. Wir wissen auch noch nichts Näheres. Ob Sie da hinfahren dürfen? Da müssen wir erst mit München sprechen.“
Nach einer Weile die Antwort. Nein. Keinesfalls dürfe er den Raum H. verlassen. Nur wieder zurück nach München.
„Aber ich habe ein Haar von Frau Kirchbauer in meinem Auto gefunden. Hören Sie? Ein Haar, ein blondes Haar! Man hat blonde Haare in dem Mercedes gefunden, neben dem der Mann lag. Blonde Haare! Man könnte sie vergleichen!“
„Herr Küster. Sie können uns gern die gefundenen Haare übergeben. Die werden dann nach München geschickt, ins kriminaltechnische Labor. Man kann sowas nicht an Ort und Stelle feststellen. Was glauben denn Sie?“
Niedergeschlagen, deprimiert trennt sich Küster von dem gefundenen Haar. Es fällt auch noch zu Boden. Muss wieder gesucht werden. Ob das Haar, das man findet, dasselbe ist? Da ist lange nicht gründlich geputzt worden.
Küster verabschiedet sich. Und telefoniert mit dem Sender. Hartnäckig. Bis er die Reporterin erreicht. Muss erst Vertrauen schaffen.
„Hören Sie, ich vermisse eine Johanna Kirchbauer, eine suizidgefährdete junge Patientin, blond, cirka 22 Jahre alt. Zuletzt gesehen in Lauf. War nachts zu Fuß auf dem Rückweg nach Hersbruck. Die Polizei hat doch ausgerissene blonde Haare gefunden. Im Zimmer von Johanna, hier in der Bildungsstätte, ist bestimmt ein Kamm oder eine Bürste, an der Haare von Johanna sind. Die könnte man doch vergleichen ...“
Die Reporterin schien zu begreifen. Witterte eine Story. Ihre Story.
„Wer sind Sie? Wo sind Sie? Wann können wir Sie treffen? Wo ist die Bildungsstätte? Wie kommt man da hinein? Geben Sie mir Ihre Nummer. Mobil, ja. Ein Kollege aus Nürnberg wird kommen. Vermute ich!“
Verabredung im Hotel. Aber kein Kollege aus Nürnberg. Keiner ist verfügbar. Sie selbst kommt. In cirka zwei Stunden. Aber niemand kommt. Auch kein Anruf.
Warten. Warten. Warten. Erbarmungsloses, nervenzehrendes Warten.
Küster hat schon sämtliche einigermaßen interessante Straßen des Städtchens durchwandert. Sein Handy zirpt. Zu aufgeregt zieht er es aus der Tasche. Drückt auf die falsche Taste. Zerstört die Verbindung.
Warten. Warten. Warten. Nun noch schlimmer. Zermürbend.
Der Anrufer meldet sich nicht nochmal. Schließlich setzt sich Küster auf eine Bank und wählt seinen Anrufbeantworter zuhause an.
Das Übliche. „Hallo Ansgar, wo treibst du dich denn rum ....“ - „Sehr geehrter Herr Dr. Küster, bitte haben Sie Verständnis ....“ . Verständnis dafür, dass er aufgrund der Vorkommnisse in der Bildungsstätte keine Lehrgänge mehr abhalten soll. Die Kündigung. Brief folgt. Vorkommnisse! Vorkommnisse? Küster fühlt sich wie betäubt. Ist er jetzt ein Kinderschänder? Hat er sich an einer Schülerin vergriffen? Er will schon abbrechen, da - eine etwas herbe, schwache Stimme nennt unvermittelt eine Ziffer: 096548209. Schluss. Er hat nicht mitgeschrieben. Also nochmal alles zurücklaufen lassen. Mit welcher Tastenkombination? Er rennt ins Hotel, sucht die Gebrauchsanweisung.
Noch einmal alle Ansagen, noch einmal „aufgrund der Vorkommnisse ....“ und dann die Nummer 0 9 6 5 4 8 2 0 9. Eine Telefonnummer! Vom Handy aus anrufen? Nein, gewiss nicht. Wahrscheinlich wird er abgehört, wegen der „Vorkommnisse“, wegen des Verdachts auf sexuelle Übergriffe, auf Mord gar. Also raus zu einer Telefonzelle. Er schaut sich rechts und links um, ob ihn jemand beobachtet. Ob ihm jemand folgt. Er versucht zu schlendern, in Geschäftsauslagen hineinzusehen. In der Spiegelung nach Verfolgern zu suchen. Verfolgungswahn, Paranoia würde er es bei anderen nennen. Auf sich selbst bezogen - Vorsicht. Am Bahnhof schließlich findet er eine halbwegs intakte Telefonzelle.
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