An diesem Abend spielte sie nicht. Und auch an den nächsten Abenden nicht.
Morgens, im Frühstücksraum, setzte er sich zu ihr: „Was ist los? Wie geht es der Gitarre?“
„Eine Saite ist gesprungen!“
„Dann kaufen wir eine neue. Ich muss ohnehin heute Mittag in der Stadt was besorgen!“ Das war eine Lüge, aber was hätte er anders sagen sollen, ohne dass sie gleich hätte abwinken müssen.
Am Abend hörte er Johanna wieder spielen.
Für ihn war es der letzte glückliche Abend. Denn am nächsten Tag musste er abreisen.
„Bitte das Baumbild nicht vernichten! Vielleicht sehen wir uns ja noch mal. Irgendwann – wenn du magst – kannst du es ergänzen.“
„Wie meinen Sie das – ergänzen?“
„Nun, vielleicht führt durch diese Landschaft ein Weg? Und es gibt einen Hintergrund? Ich jedenfalls werde dein Bild nicht vergessen – und dich auch nicht!“
„Ach, das sagen Sie nur so. Das glaub’ ich Ihnen nicht!“
„Doch, ganz bestimmt. Und wann immer du mit mir Verbindung aufnehmen willst, hier ist meine Karte.“
„Gibt es eigentlich noch mehr solche Tests wie den mit dem Baum?“
„Es gibt viele. Tests, um etwas zu prüfen oder zu beweisen, sind es nicht, eher spiegelt sich darin die eigene Persönlichkeit. Manche sind sehr kompliziert. Da braucht man einen Tag zu und einen Computer zur Auswertung. Und es gibt einen, der mich selber immer wieder verwirrt. Ich pendle zwischen Ablehnung und Staunen, der geht mit Farben!“
„Kann ich den mal machen oder ist das auch kompliziert?“
Ansgar holte den Lüschertest aus der Tasche und legte die Farbkarten unter die Schreibtischlampe.
„Eigentlich sollte man die Karten unter Tageslicht anschauen. Farben verändern sich unter dem kalten Licht dieser Deckenbeleuchtung. Aber jetzt, unter der Tischlampe geht es ganz gut. Und es ist ja auch mehr ein lustiges Spiel.“
Johanna betrachtete die acht Karten lange. Es fiel ihr sichtlich schwer, die Lieblingsfarbe herauszufinden und die von ihr am wenigsten geschätzte.
„Wahrscheinlich mache ich wieder alles falsch!“
„Kann man nicht. Es gibt kein Falsch und kein Richtig. Überdies ist das von momentanen Stimmungen abhängig. Erst wenn man an mehreren Tagen und in Wochenabständen stets zu ähnlichen Reihen kommt, verfestigt sich ein Bild. Und häufig stimmt es. Das ist ja das Frappierende daran.“
Johanna wählte nach langem Zögern endlich Rot als Lieblingsfarbe. Schwarz kam ans Ende. Neben Rot kam Grau, dann Blau, Grün, Violett, Gelb, Braun und dann die schwarze Karte.
„ Will Hemmungen und Hindernisse abrupt durchbrechen und im impulsiven Begehren sich und die eigene Wirkung erleben. Will dabei die spannungsvollen Konflikte betäuben, gerät aber durch impulsive Handlungen in Risiken“ , las Ansgar vor.
„Aufhören!“ Fast schrie sie. „Aufhören!“
„Warum? Ist es falsch?“
„Nein, nein, es ist so! Es ist einfach so. Und genau davor habe ich Angst!“
„Sicher ist in der nächsten Kombination eine mildernde Ergänzung:
„ Hat das Verlangen nach ruhiger und gefestigter Verbundenheit, um sich bestätigt, gewürdigt, geliebt und zufrieden zu fühlen.“
„So, jetzt wissen Sie ja alles von mir!“ Trotz klang aus ihrer Stimme, aber auch Verlegenheit. „Den Rest will ich gar nicht hören!“
Abrupt stand Johanna auf. Ihr Abschied glich einer Flucht. Noch ein letzten gequältes Lächeln und sie verschwand über den Balkon.
Wochen später. Das Telefon klingelt oder wie man dieses scheußliche Geräusch jetzt nennt. Zunächst versteht er die Stimme nicht. Es ist Johanna. Ihre Stimme klingt verzagt, heiser.
„Hier ist der doppelte Baum. Das Fräulein Doubletree, wie Sie mich scherzhaft genannt haben. Schade, dass Sie nicht wieder im Hause sind. Irgendwie hatte ich gehofft, dass Sie wieder hier sein würden. Zunächst mal möchte ich mich bei Ihnen entschuldigen, weil ich damals so grußlos davon gerannt bin. Ich war einfach fassungslos. Aber jetzt, glaube ich, brauche ich dringend Ihren Rat. Erst hatte ich tatsächlich Angst vor Ihnen; dass Sie mich mit Ihren Psychologenaugen durchschaut haben. Oder gar hypnotisieren. Dass ich irgendetwas male, womit ich was ganz, ganz Schlimmes verrate. Und dann die Sache mit den Farben. Aber dann habe ich mir gedacht: Johanna, du siehst Gespenster. Dieser Mann ist vielleicht der einzige Mensch, der dich versteht. Ich bin nämlich in Not. Ich hatte so gehofft, Sie wären da. Aber nun, wo Sie nicht hier sind, weiß ich nicht, wie es weitergehen soll. Wann haben Sie denn wieder Seminare hier im Haus?“
Man kann einer Stimme anhören, ob die Dramatik gespielt oder echt ist. Da war keine Dramatik - und gerade das signalisierte ihm Gefahr im Verzuge. Resignation. Verzweiflung. Hatte er mit dem Baumbildchen eine Wunde aufgerissen? Der doppelte Baum, er hatte es ihr verschwiegen, war nicht zu bagatellisieren. Das war kein Zufall. Johanna gegen Johanna. Heute diese Johanna, morgen jene? Oder von Stunde zu Stunde die andere? Verunsicherung: Die Farben. Erst hatte Johanna allen Ernstes die schwarze Karte nach links legen wollen. Schwarz als Lieblingsfarbe!!! Das gab es noch nie. Er hatte nachgeschaut. Im Lüschertest steht für Schwarz und Grau als Lieblingsfarben:
„ Hält die Situation für hoffnungslos. Widersetzt sich den als widerwärtig empfundenen Umständen durch Widerwillen. Versucht, sich gegen die quälenden und deprimierenden Gefühle abzuschirmen.“
Dann, mit letzter Spontaneität, tauschte sie die schwarze gegen die rote Karte aus. Von ganz links nach ganz rechts und umgekehrt! Welche Zerrissenheit! Und jetzt der Notruf! Nein, der ist ganz sicher nicht gespielt.
Wer bin ich eigentlich? Wer bin ich wirklich? Ein schwieriger Prozess, sich selbst zu finden. Schon für einen normalen Menschen. Er erschrak. Hatte er gerade Johanna als anormal eingeordnet? Von einem „normalen Menschen“ unterschieden? Warum? Nur wegen der beiden Bäume? Wegen eines einfachen, flüchtigen prospektiven Tests? Wegen Schwarz gegen Rot? Was hatte er mit diesem Mädchen zu tun? Warum sollte, wollte er sich kümmern? Um das Mädchen mit der Gitarre? Helfersyndrom? Ein Flirt mit einer Auszubildenden? Verleugnete er am Ende vor sich selbst, dass er auf ein Abenteuer aus war? Nur Neugier? Ein psychologisches Experiment?
„Hören Sie noch? Sind Sie noch am Apparat?“
Wie von Ferne vernahm er seine Stimme, als ob ein anderer spräche: „Johanna, ich komme. Ich werde heute am Abend noch irgendwann eintreffen. Wann, kann ich noch nicht genau sagen. Vielleicht um sechs. Wir treffen uns am besten im Foyer!“
Den ganzen Tag über war er nicht bei der Sache. Immer wieder stockte er bei seiner Arbeit, glaubte, Gitarrenklänge zu hören. Viel früher, als er es eigentlich ermöglichen konnte, saß er am Steuer. Viel schneller, als er gewöhnlich fuhr, raste er auf der Autobahn nordwärts. 260 Kilometer weit für ein unbekanntes Mädchen. Für das Mädchen mit dem bäuerlichen Gesicht. Für das Mädchen mit der Gitarre. Für das Mädchen mit dem Doppelbaum. Für Johanna.
Noch während er sich - vergeblich - Gedanken machte, wie er vermeiden könne, im Bildungshaus aufzutauchen und eine Auszubildende abzuholen, oder gar mit in ihr Zimmer zu gehen, löste sich das Problem: Johanna kam ihm schon auf dem Weg zum Haus entgegen. Auch sie hatte es nicht abwarten können. Auch sie wollte nicht mit ihm gesehen werden. Hastig stieg sie in sein Auto. In einem Nachbarort kannte er ein sehr gemütliches Lokal in einem urigen Hotel, wo er schon häufig zu Gast war. Dort wollte er Johanna zum Essen einladen. Aber er musste sie fast nötigen, irgendeine Kleinigkeit zu sich zu nehmen.
„Hier können wir nicht sprechen! Können wir nicht woanders hinfahren?“ bat sie ihn. So parkte er schließlich an einem Waldrand.
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