„Na, was denn? Komm jetzt bloß nicht auf dumme Gedanken!” Weil sie eine für sie unvorteilhafte Reaktion in Betracht ziehen musste, schob Emma mit vorgespielter Souveränität rasch nach. „Ich kratze, beiße und spucke. Außerdem. Ich bin bereits vergeben.” Sie schätzte ihr Gegenüber kritisch ab.
Ron stand regungslos, das rechte Ohr an das Türblatt gedrückt, ein paar Schritte entfernt. Nur kurz hatte er ihre Worte mit abstrafendem Blick als unangebrachtes Geplapper gewürdigt. Etwas anderes interessierte ihn weitaus mehr.
Emmas Irritation wuchs. Sie wusste weder genau, was geschehen war, noch besaß sie eine Vorstellung, wo sie war. Sie hatte zwar keine Angst, dafür hatte sie Ron in den letzten Wochen zu lange beobachtet, als dass zu befürchten war, ein wie auch immer geartetes Unheil fiel nun mit angehend mannhafter Statur über sie her. Die größten Zweifel an der Behaglichkeit ihrer augenblicklichen Situation hegte Emma eigentlich nur, weil sie sich an einem durch und durch ungemütlichen Ort befand, in einem echten Drecksloch nämlich, das Ekel in ihr aufkommen ließ, je länger sie sich mit kurzen Blicken umschaute.
Das Zimmer besaß die Größe einer Hundehütte, wie sie die beklemmende Enge empfand. Alle Wände waren mehrfach laienhaft mit schwarzer Farbe gestrichen. Statt eines Fensters war ein Ventilator in einer der Wände eingelassen worden, der aber schon seit längerem den Betrieb versagte, wie ein gebrochenes Rotorblatt verriet. Eine Glühbirne hing an ihrem Stromkabel von der Decke. Mottenmuff drang widerlich miefend in ihre Nasenlöcher. Staubwolken glitten an den Stuhlbeinen bei jeder Bewegung tänzelnd auf dem Boden hin und her. Auf dem Bett lag nur eine Decke, und die Matratze wies ekelige Flecken unbekannter Art und Herkunft auf. Dazu war es ungenehm heiß. Emma kannte diese gestaute Wärme von der alten Frau Winkler, die in ihrem Haus wohnte. Öffnete sie ihre Wohnungstür, gleichgültig, zu welcher Jahres- oder Tageszeit, wurde man, ging man gerade daran vorbei, von jenen Hitzewallungen förmlich erschlagen. Emma blickte auf ein paar Zeichnungen und das einzige Regalbrett an der Wand gegenüber. Neben ein paar arg verschlissen, uralten Schulheften standen genau drei Bücher standen nebeneinander: das Satanische Manifest, eine Biographie über Karl Marx und ein Lehrbuch der großen Philosophen aus der Antike.
Als sie Ron an diesem Tag gefolgt war, bestand ihre größte Sorge darin, dass er möglicherweise aus dem Osten der Republik stammen könnte, so wie er gesächselt hatte, als sie ihm und einem seiner eigenartigen Kameraden einmal heimlich gefolgt war. Hatte Oskar Recht, drohte genau jetzt dieses Unheil, befürchtete Emma.
Oskar nämlich maß seine Beurteilung über Menschen an dem Besitz ihrer Bücher. „Zeig mir Deine Bücher, und ich sage Dir, wer Du bist.”
Emma wollte sich ihre Bedenken nicht anmerken lassen, und so tat sie, was sie in Situationen wie dieser immer tat, wenn sich Dinge für sie nachteilig gestalten konnten. Sie ging in die Offensive. Immer noch wartete sie auf eine Reaktion, die sie beruhigen konnte.
„Ich habe lediglich bemerkt, dass Du in einem Alter sein dürftest, in dem Du alles für möglich halten solltest,” bemerkte Ron, schloss die Tür und zog sein Shirt aus. Während ihrer Beobachtungen hatte er mehrfach links wie rechts auf den Flur gelinst, zu seiner Beruhigung aber nichts Auffälliges feststellen können. Noch blieben sie unter sich.
„Was ist? Damenbesuche sind hier verboten, wie?”
Ron ignorierte ihre Provokation abermals.
Emma nahm ihn weiter argwöhnisch in den Blick. „Wenn Du glaubst, dass ich auf Entführung, Höhle und Urmensch stehe, muss ich Dich enttäuschen. Außerdem. Ich sagte doch. Ich bin bereits vergeben!”
„Vorsicht! Je höher der Affe klettert, desto mehr sieht man von seinem Hintern!” Ron ging zum Schrank und griff ein neues Shirt. Der eigentlich einfache Vorgang kam einem Jonglier- und Kraftakt gleich, denn der klapprige Holzspint kippte zunächst sowohl nach vorne wie auch zu beiden Seiten bedrohlich zunächst von links nach rechts, dann auf und ab und obendrein noch ein weiteres Mal zurück von der rechten auf die linke Seite.
Emma war abermals verblüfft, aber nicht etwa, weil sich ein Junge vor ihr entblößte. Da hatte sie schon ganz anderes gesehen. Peinlich sorgfältig und geglättet lagen dutzende identische Shirts übereinander gelegt. Alle waren noch neu verpackt. Genauso viele Jeans stapelten in gleichem Zustand daneben. Unzählige Paare schwarzer Socken lagen auf dem Schrankboden griffbereit.
„Jeden Tag trägst Du diese Klamotten. Immer die gleichen. Aber hip ist ganz eindeutig etwas anderes.”
Ron ließ sich nicht stören. „Hip?”
„Ja! Hip!”
„Was bitte meint hip?”
„Wie, was meint hip?”
„Wie, wie, was hip meint?”
Eine neue Irritation machte sich in ihr breit. Wollte er sie allen Ernstes mit seiner vorgeschobenen Unwissenheit necken? Jeder Mensch jenseits des Kindergartens wusste, was dieser Ausdruck bedeutete. Ron aber schaute sie derart glaubhaft tief fragend an, dass zumindest der begründete Verdacht bestand, ihm zuzugestehen, tatsächlich nicht zu wissen, was hip meinte. Außerdem war es weise und vorausschauend, etwaigen Handgreiflichkeiten gegen Leib und Seele dialogreich zuvorzukommen. „Angesagt. In. Hip eben.”
Er schüttelte verständnislos den Kopf. „Mit diesen Klamotten, wie Du sie nennst, bin ich in der Lage, mich zu entmaterialisieren. Mich aufzulösen.”
„Sicher! Geht klar. Das verstehe ich! Was sonst?” Emma inspizierte noch einmal das Zimmer mit seiner kargen Einrichtung, ohne dabei Ron auch nur für eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Ihr Blick fiel auf die Graphiken, die alte Damen im englischen Ambiente zeigten und wenigstens einen Hauch Wertschätzung für persönlichen Besitz vermittelten, auch wenn geschmackvoll etwas anderes war.
Ron hatte ihr Interesse an der Kreidezeichnung vernommen. „Das einzige, was mir geblieben ist. Von meiner Mutter. England, achtzehntes Jahrhundert. Siebzehnhundertneunundfünfzig, um genau zu sein.”
Emma pflichtete ihm bei, so, als war seine Erklärung das Selbstverständlichste auf der Welt.
Immer mal wieder beobachtete auch Ron sie aus den Augenwinkeln heraus, was Emma ihrerseits genau registrierte. „Nichts ist, wie es scheint. Wenn Du das erkannt hast, hast Du keine Probleme mehr.” Er genoss seine Überlegenheit, wie Emma vermutete, verharrte aber wieder für einen kurzen Moment aufs Neue, um zu hören, ob sich hinter der Zimmertür nicht doch etwas tat.
„Moment! Ich habe kein Problem. Aber sollte ich eins bekommen, hast Du auch eins.” Sie bespitzelte ihn weiter eindringlich. „Und jetzt mal das Schnitzel aufs Brötchen. Wo sind wir hier wirklich?”
Ron verharrte plötzlich, lauschte angestrengt ins Nichts und entzog seinem Körper erneut jede Anspannung. „Wie ich schon sagte. Du befindest Dich im sechsten Agententrakt der Unterwelt. Und ich sagte, dass Du leise sein sollst!” Er stand vor ihr und taxierte sie derart von unten nach oben und wieder zurück, als suchte er nach einem Makel an ihr.
Emma rutschte nervös zurück. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. „Richtig! Ich vergaß,” entgegnete sie im Flüsterton und legte mit leichter Ironie nach. „Die Schwellenwächter dürfen ja nicht wissen, dass ich hier bin.”
„So ist es! Aber bitte! Nimm es nicht persönlich!”
Sie verfolgte, wie er Hose, Socken und Schuhe wechselte. Sie blickte auf einen tätowierten Dreizack, der Rons Oberarm zierte. Als er sich zu ihr setzte, verspürte sie eine ungewöhnlich starke Körperwärme, die von ihm ausging. Emma wurde noch unbehaglicher. Dieser Typ würde sich nicht wirklich an ihr vergehen, oder doch? Hatte sie sich derart getäuscht? Ron legte den Zeigefinger auf seinen Mund. Von draußen waren Schritte zu hören, die sich aber zu seiner Beruhigung wieder von dem Zimmer entfernten.
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