Als Baptiste das Pferd angebunden hatte, blickte er, ein bisschen stolz auf sich selbst, Anne an, die ihn lobte: "Für das erste Mal war das doch schon ganz gut. War es denn nun so schlimm?"
"Nein," antwortete der Franzose, "aber wenn sie nicht gekommen wären, ich glaube nicht, dass ich es allein geschafft hätte. Danke."
Und nach einem Augenblick des Schweigens, keiner wusste so recht, was er jetzt tun sollte, fügte er hinzu: "Ich werde nun den Mist aus dem Stall entfernen und frisches Stroh in die Box tun."
Dann ging er langsam durch das Tor auf die Diele und von dort auf die Stallgasse. Anna folgte ihm. Sie tat das, obwohl es von ihrer Seite nichts mehr für Baptiste zu tun gab. Aber irgendwie spürte sie ein Bedürfnis, das Gespräch mit Baptiste weiterzuführen. Jener nahm die Forke aus der Schiebkarre und blickte Anna an, die dieses Mal seinem Blick nicht auswich.
"Sagen sie, Baptiste, haben sie wirklich bei ihren Großeltern in der Landwirtschaft mitgeholfen, damals, als sie noch Kind waren, wenn sie bei ihnen zu Besuch waren?" setzte Anna das Gespräch fort.
"Wenn ich ehrlich sein soll, und das möchte ich ihnen gegenüber sein, habe ich meinen Großeltern so gut wie nicht geholfen. Ich habe damals mit Nachbarkindern gespielt und bin nur hin und wieder mit meinen Großeltern aufs Feld gegangen. Aber dort mitgeholfen? Nein, so gut wie gar nicht."
"Wie kommt es denn aber, dass sie uns als Gefangener zugeteilt wurden? Mein Vater hat doch ausdrücklich Gefangene beantragt, die sich in der Landwirtschaft auskennen."
"Wissen sie, ich habe in der Gefangenschaft hungern müssen," entgegnete Baptiste lächelnd,“ ich war zuerst im Ruhrgebiet in einer Fabrik. Dort gab es wenig zu essen. Und als eines Tages gefragt wurde, wer sich in der Landwirtschaft auskennt, habe ich mich gemeldet, weil ich hoffte, einem Bauern zugewiesen zu werden und dort mehr zu essen zu bekommen. Und das ist ja auch tatsächlich so. Ihre Mutter sorgt sehr für Adam und für mich, sie aber auch. Danke."
Anna blickte einen Moment verlegen zu Boden. Dann fragte sie: "Sie sind doch aber nicht gleich zu uns gekommen, wo waren sie denn, bevor sie uns zugewiesen wurden?"
"Ich hatte Glück und wurde für die Arbeit in der Landwirtschaft bestimmt. Nach einigen Tagen wurde ich zusammen mit anderen französischen Gefangenen mit dem Zug nach Grafenhagen gebracht. Hier waren wir zunächst mehrere Tage im Saal der Gastwirtschaft Dammann untergebracht, bis ich zu ihnen kam - zu meinem Glück."
Baptiste lächelte Anna an. "Ja, zu meinem Glück," wiederholte er.
"Sie sagten vorgestern, sie seien Lehrer an dem Gymnasium in.....wie heißt die Stadt?"
"Luneville," dann fügte er lächelnd hinzu: "Sie liegt in Frankreich!'
Anna lachte kurz auf, und Baptiste ergänzte: "Eben haben sie so gelacht wie am Montag auf der Diele. Aber ich wollte ihren Vater nicht......wie sagt man in Deutschland - nicht auf den Arm nehmen oder ihn lächerlich machen. Meine Bemerkung war ganz spontan. Manchmal mache ich solche dummen Äußerungen, die andere als provozierend empfinden können. Meine Mutter hat mich schon oft darauf hingewiesen und mich gebeten, das zu unterlassen. Aber ich meinte es gegenüber ihrem Vater nicht böse. Glauben sie mir."
"Ja, ja ich glaube ihnen. Und in welchen Fächern haben sie unterrichtet?"
"In Französisch, Geschichte und Geografie , manchmal auch in Musik, wenn mein Kollege, der Musiklehrer, verhindert war."
"Sie hoffen sicher, dass sie bald wieder unterrichten können."
"Ja, sehr, ich bin gern Lehrer. Aber der Krieg, dieser unglückselige Krieg."
"Ich wünsche es ihnen, Baptiste. Der Krieg kann ja nicht ewig dauern. Eines Tages werden sie nach Frankreich zurückkehren."“
"Ich hoffe es sehr. Wissen sie, ich liebe Frankreich. Es ist ein schönes Land. Waren sie schon mal dort?"
"Oh nein. Ich bin noch nicht viel herumgekommen. Ich war einige Male in Hannover, aber sonst kenne ich nur Grafenhagen und einige Dörfer hier in der Gegend. Na ja, und dann kam der Krieg, und auf dem Hof gab es immer viel Arbeit. Frankreich ist auch sehr weit weg. Wie sollte ich dahin kommen? Und dann die Sprache. Ich spreche kein Französisch."
Einen Augenblick schwiegen beide und standen sich etwas verlegen gegenüber. Anna schwankte zwischen Bleiben und Weggehen. An sich war das Gespräch beendet; aber sie blieb, und der Franzose, der weiterhin die Forke in der Hand hielt, traf keine Anstalten, mit dem Ausmisten zu beginnen. Beide hatten das unerklärliche Bedürfnis, das Gespräch fortzusetzen.
"Jetzt habe ich ihnen einiges von mir erzählt," unterbrach Baptiste das Schweigen, " von ihnen weiß ich jedoch nur, dass ihr Mann bei der Kavallerie ist. Das habe ich von Fritz gehört."
"Ja, er ist in Ostpreußen stationiert," antwortete Anna, die froh war, dass der Franzose das Gespräch wieder in Gang gebracht hatte.
"Ich wünsche ihnen, dass er gesund aus dem Krieg zurückkehrt," erklärte Baptiste und fügte noch lächelnd hinzu: "Ach ja, Fritz hat auch noch erzählt, dass sie 24 Jahre alt sind."
"Haben sie danach gefragt? " wollte Anna wissen.
"Nein, er hat das mal von sich aus erwähnt. Er erzählt gern und ist lustig. Ich glaube, er ist ein lebenskluger Mann, und er ist nett. Adam und ich haben schon mehrere Male über ihn gelacht, aber nicht, weil er stottert, sondern weil er Spaß gemacht hat. Er ist hier wohl eine Art Hofnarr."
Beide lachten.
"Das kann man wohl so sagen. Ja, er ist aber auch nett und manchmal sehr witzig," bestätigte Anna, die nach einem weiteren Moment des Schweigens das Gefühl hatte, nun gehen zu sollen. Aber der Franzose fragte noch: "Welche Schule haben sie denn besucht?"
"Die Dorfschule hier in Wöhren," antwortete Anna. "Danach war ich ein Jahr lang bei einem Bauern im Haushalt und habe dann noch ein Jahr die Hauswirtschaftsschule in Grafenhagen besucht."
"Dann sind sie ja eine perfekte Hausfrau," meinte Baptiste lächelnd.
"Nein, nein," entgegnete Anna bescheiden, und beide schwiegen wieder.
Plötzlich entdeckte sie am Hals des Franzosen, der die beiden oberen Knöpfe seines Hemdes geöffnet hatte, eine dünne Kette mit einem kleinen Kreuz daran. Anna hatte noch nie eine Kette am Hals eines Mannes gesehen.
Als Baptiste merkte, dass Anna erstaunt auf seine Halskette blickte, erklärte er, das sei ein Amulett, das er von seiner Mutter bekommen habe, als er habe Soldat werden müssen. Es solle ihn beschützen. Das Kreuz sei aus Elfenbein. Und bis jetzt habe es ja auch gewirkt. Er hoffe, dass es ihn auch weiterhin vor Unheil bewahren werde.
"Das wünsche ich ihnen," erwiderte Anna darauf nachdenklich. "Weiß ihre Mutter, wo sie jetzt sind?"
Als Baptiste die Frage verneinte, riet Anna ihm, ihr zu schreiben.
"Das würde ich gerne tun; aber ich habe kein Papier zum Schreiben und keinen Bleistift. Auch Adam kann deshalb nicht nach Hause schreiben."
"Ich besorge ihnen einen Füllfederhalter, Papier und einen Briefumschlag," versprach Anna, "auch für Adam. Sie bekommen die Sachen beim Mittagessen. Wenn sie und Adam ihren Brief fertig haben, geben sie ihn mir. Ich klebe dann eine Briefmarke auf den Umschlag und werfe den Brief in Grafenhagen in den Briefkasten."
"Danke. Ich bedanke mich auch für Adam."
Danach schwiegen beide. Anna lächelte den Franzosen an und meinte dann, jetzt müsse sie aber in den Stall und das Futter für die Schweine vorbereiten.
Als sie sich gerade umgedreht hatte, um die Stallgasse zu verlassen, sagte der Franzose: "Ich habe etwas vergessen. Ich weiß auch noch, dass sie Anna mit Vornamen heißen. Das ist ein sehr schöner Name, finde ich."
Anna, die verlegen errötete, drehte sich wieder zu Baptiste um und meinte: "Finden sie?"
"Ja, ja," antwortete jener und fügte dann hinzu: "Ich möchte sie gern bei ihrem Vornamen nennen. Darf ich das?"
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