Karl Brammer schwieg zunächst, blickte auf den Küchentisch und überlegte. Dann fasste er den Entschluss, den Eheleuten Senne mit einem Brief an die Gestapo beizustehen, selbst auf die Gefahr hin, dass auch er Schwierigkeiten mit dieser Polizei bekommen würde. Er wusste, dass mit der Gestapo nicht zu spassen war. Wer einmal in ihre Fänge geriet, konnte sich daraus in der Regel nicht wieder völlig befreien. Trotzdem wollte er es versuchen. Er fühlte sich seinem Berufskollegen Heinrich Senne und dessen Eltern gegenüber dazu verpflichtet. In dieser Situation Hilfe zu verweigern, hätte er als schäbig empfunden. Ihm war aber auch klar, dass er nicht den Eindruck erwecken durfte, auch der Polin helfen zu wollen. Ein solcher Verdacht hätte für ihn selbst gefährlich werden können. Heinrich Senne war in seinen Augen kein Verbrecher. Er hatte nur etwas getan, was aus politischen Gründen verboten war.
"Gut, ich will es versuchen," versprach Karl Brammer, "ich schreibe den Brief heute noch fertig. Danach komme ich zu euch, ihr könnt ihn dann lesen, und anschließend bringe ich ihn zur Post nach Grafenhagen. Heute noch."
"Danke, Karl," schluchzte Sennenmutter erleichtert, "wie können wir das nur wieder gut machen?'
Auch Ludwig Senne bedankte sich.
Karl Brammer erhob sich mit der Erklärung vom Stuhl, er wolle sofort anfangen zu schreiben. Auch die Eheleute Senne standen auf und verließen die Küche. Karl Brammer begleitete sie noch bis zu ihren Fahrrädern. Dann rief er seine Tochter, die in der Waschküche beschäftigt war, und bat sie, in die Küche zu kommen. Er hatte zwar wenig Hoffnung, dass ein Brief von ihm Sennen Heinrich helfen würde; aber er wollte es wenigstens versuchen. Mit seiner Tochter wollte er besprechen, wie er den Brief am besten formulieren sollte. Er traute ihr in dieser Beziehung mehr zu als sich selbst. Außerdem sollte sie den Brief erforderlichenfalls verbessern, wenn er Schreibfehler enthielt. Reden zu halten und formelle Briefe zu schreiben, waren nicht seine Sache. Das war ihm bewusst.
Als Anna in der Küche erschien, berichtete er ihr vom Besuch der Eheleute Senne und von ihrem Anliegen. Anna, die schon zwei Tage zuvor von Fritz Tegtmeier von der Verhaftung des Heinrich Senne und der Polin erfahren hatte, riet ihrem Vater, in dem Brief zunächst darzulegen, wer er sei, insbesondere, dass er bereits seit 1934 der Partei und der SA angehöre, dass er Bürgermeister, Ortsgruppenleiter und Ortsbauernführer sei und dass sein Schwiegersohn Soldat im Range eines Rittmeisters sei. Erst danach solle er auf die Verhaftung von Heinrich Senne kommen und auf den Grund seiner Festnahme. Er solle dessen Verhalten als verabscheuungswürdig bezeichnen, weil ein Geschlechtsverkehr zwischen einem deutschen Volksgenossen und einer polnischen Fremdarbeiterin den rassischen Bestand des deutschen Volkes gefährde. Er solle das so krass schreiben, um damit keinerlei Zweifel an seiner eigenen Linientreue aufkommen zu lassen, auch wenn er das tatsächlich nicht so eng sehe. Sie halte es für angebracht, dass er sich zunächst als strammen Nationalsozialisten darstelle. Erst danach solle er trotz des Fehlverhaltens des Heinrich Senne um eine milde Beurteilung bitten, weil jener einen Hof zu bewirtschaften habe, seine Eltern schon alt seien, weil nur ein schon älterer Knecht als Hilfe zur Verfügung stehe und weil in etwa vier Monaten die Ernte beginne. Dann solle ihr Vater darlegen, dass Heinrich Senne seit drei Jahren Witwer und noch relativ jung sei und einen fünf Jahre alten Sohn habe, um den sich die Polin sehr gekümmert habe. Wahrscheinlich hätten diese Umstände zu seinem Fehltritt geführt. Sodann solle er vorsichtig formulieren, dass jener die volkspolitische Gefahr seines Verhaltens wohl nicht erkannt oder falsch eingeschätzt habe, was seiner Meinung nach zu einer milden Beurteilung des Fehlverhaltens seines Kollegen führen könne. Schließlich riet Anna ihrem Vater, in dem Brief an die Gestapo darauf hinzuweisen, dass Heinrich Senne ein fleißiger, treuer Deutscher sei, der bisher nie etwas mit der Polizei zu tun gehabt habe, dass er zwar nicht in der Partei sei, dass er aber fest auf dem Boden der nationalsozialistischen Idee stehe. Das habe er auf Grund zahlreicher Gespräche mit ihm festgestellt. Wenn solche Gespräche tatsächlich auch nicht stattgefunden hätten, so empfahl Anna ihrem Vater, das trotzdem zu schreiben, da das Heinrich Senne nur dienlich sein könne.
Karl Brammer leuchteten die Anregungen seiner Tochter ein. Er staunte über ihre Überlegungen und war ein bisschen stolz auf sie. Allein würde er den Brief im gedanklichen Entwurf so nicht hinbekommen haben.
Beide formulierten nun den Brief, den Karl Brammer mit der Hand auf Papier mit Linien schrieb.
Als der Brief fertig war, hatte der Bauer das Gefühl, Heinrich Senne und seinen Eltern damit helfen zu können. Er holte sein Fahrrad aus der kleinen Scheune, fuhr zu den Eheleuten Senne und gab ihnen den Brief zum Lesen. Dabei erläuterte er ihnen, warum er einzelne Formulierungen, obwohl sie gegen Heinrich sprachen, im Interesse ihres Sohnes für erforderlich hielt. Der Brief würde Heinrich nach Auffassung des Bauern nicht helfen, wenn man sein Verhältnis mit der Polin verharmlosen oder gar den rassistischen Gedanken des Verbots eines Geschlechtsverkehrs zwischen einem Deutschen und einer polnischen Fremdarbeiterin in Zweifel ziehen würde. Die Eheleute Senne sahen das ein und waren mit dem Inhalt des Briefes einverstanden. Sie bedankten sich bei Karl Brammer, der gleich danach zur Post in Grafenhagen fuhr, wo er eine Briefmarke kaufte, sie auf den Briefumschlag klebte und den Brief sodann in den Briefkasten am Postgebäude steckte. Anschließend fuhr er nach Hause, wo er rechtzeitig zum Abendessen eintraf.
Ob der Brief, auf den die Gestapo nicht reagierte, Heinrich Senne tatsächlich geholfen hatte, erfuhr Karl Brammer in den folgenden Jahren nicht. Jedenfalls wurde Heinrich etwa vier Monate nach dem Absenden des Briefes aus der Haft entlassen. Danach war er auffällig verschlossen. Über die Zeit seiner Abwesenheit, wo er gewesen war, was man mit ihm gemacht hatte, sprach er gegenüber fremden Menschen mit keinem Wort, auch nicht gegenüber Freunden und Kollegen. Wahrscheinlich war ihm von der Gestapo unter Androhung einer erneuten Verhaftung verboten worden, über die Zeit seiner Inhaftierung zu reden. Erst nach dem Krieg erfuhr Karl Brammer, dass Heinrich Senne in einem Konzentrationslager gewesen und dort in übler Weise gepeinigt worden war. Von der Polin Marianna hörte man nie wieder etwas. Ihr Schicksal blieb im Dunkeln.
Karl Brammer setzte sich schweigend und in Gedanken versunken an den bereits gedeckten Tisch in der Küche. Ihn plagten plötzlich Zweifel, ob er mit dem Brief an die Gestapo richtig gehandelt hatte. Bereits auf dem Weg von der Post in Grafenhagen nach Hause waren ihm erste Bedenken gekommen. Würde die Gestapo auf seinen Brief antworten, ihn vielleicht sogar aufsuchen? Fast bereute er das Schreiben und Absenden des Briefes. Am Tisch erzählte er von alledem jedoch nichts. Er ging davon aus, dass seine Frau inzwischen von seiner Tochter informiert worden war. Diese Annahme traf zu. Auch seine Frau und Anna erwähnten den Brief während des Essens nicht.
Als Karl Brammer bemerkte, dass seine Mutter und seine Frau für die beiden Gefangenen, die auf dem Sofa vor dem runden Tisch saßen, Butterbrote schmierten und diese auf zwei Teller legten, nörgelte er missmutig, so gut möchte er es auch mal haben. Die beiden brauchten die Brote nur noch in den Mund zu schieben, zu kauen und sie hinunter zu schlucken. Die feinen Herren lebten wie Gott in Frankreich.
"Wie soll ich es denn machen, Karl?" reagierte seine Frau darauf gelassen. "Ich möchte doch den runden Tisch nicht auch noch decken. Was wäre das für eine Mehrarbeit."
Seine Mutter bemerkte dazu: "Ich möchte auch nicht, dass die beiden an unserem Tisch erst nach uns essen, also wenn wir fertig sind und die Küche verlassen haben, nur damit sie sich ihre Butterbrote selber schmieren müssen. Dann würde das Abendessen fast eine Stunde länger dauern, und wir Frauen müssten mit dem Abräumen warten, bis die beiden gegessen hätten. Für einen solchen Umstand haben wir keine Zeit, Karl."
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