"Verdammt noch mal, so kann das nicht weitergehen," dachte er, aber gleichzeitig war ihm auch bewusst, dass er das gemeinsame Essen in der Küche und den Platz der beiden auf dem Sofa am runden Tisch nicht rückgängig machen konnte. Die Gefangenen könnten sich auch kaum eigenmächtig das Essen aus dem Topf holen. Das wäre in seinen Augen dreist und würde ihn noch mehr stören als die Bedienung durch seine Tochter. Und die Hausschuhe, die seine Frau für die beiden Gefangenen besorgen wollte, würden für sie eine Arbeitserleichterung bedeuten. Obwohl er das alles erkannte, störte ihn die Fürsorge seiner Frau, seiner Mutter und auch seiner Tochter für die beiden und ließ in ihm einen gewissen Groll aufkommen.
"Das Essen hat sehr gut geschmeckt, Frau Brammer," lobte Baptiste mit zurückhaltender Stimme die Bäuerin, "dabei gehe ich davon aus, dass sie die Suppe zubereitet haben."
"Ja, gut schmecken," bestätigte Adam seinem Tischnachbarn.
"Oh danke," reagierte Lina Brammer geschmeichelt, "aber meine Tochter hat mir geholfen."
Bisher hatte sich niemand von ihrer Familie lobend über ihre Kochkünste geäußert, auch Fritz und Marie Tegtmeier nicht. Alle hatten sie stets als selbstverständlich hingenommen.
"Möchtet ihr noch einen Teller?"
"Wenn es ihnen nichts ausmacht, gern," antwortete der Franzose. Der Pole nickte bescheiden mit dem Kopf.
Anna stand erneut unaufgefordert auf, holte die beiden leeren Teller vom runden Tisch, füllte sie mit Linsensuppe und brachte sie zu den beiden Gefangenen zurück.
"Vielen Dank," sagte Baptiste und blickte Anna dabei an, die jedoch verunsichert seinem Blick auszuweichen versuchte.
Auch der Pole bedankte sich.
Alle aßen danach schweigend weiter. Karl Brammer fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Ihm fehlte das lebhafte, manchmal auch strittige Gespräch, das vorher, als die Gefangenen noch nicht anwesend waren, stets beim Essen geführt worden war, besonders mit seinem Knecht Fritz Tegtmeier. Insgeheim ärgerte er sich darüber, dass er nicht über seinen eigenen Schatten springen und von sich aus ein Gespräch beginnen konnte. Dann fiel ihm plötzlich etwas ein, worauf er die Gefangenen schon am Morgen auf der Diele hatte hinweisen wollen.
"Ich habe euch noch zu sagen," wandte er sich an die beiden Gefangenen, "dass ihr während der Dunkelheit euer Zimmer in der Leibzucht nicht verlassen dürft, es sei denn, ihr bekommt von mir, meiner Frau, meiner Tochter, meiner Mutter oder von den Eheleuten Tegtmeier die Genehmigung für den Hofbereich. Gänge nach Grafenhagen oder in ein anderes Dorf kommen für diese Zeit sowieso nicht in Frage. Außerdem ist es euch verboten, Gastwirtschaften, Kinos und Rummelplätze zu besuchen. Schließlich dürft ihr auch nicht an einem Gottesdienst in der Kirche teilnehmen. Wenn ihr dagegen verstoßt, könnt ihr bestraft werden. Habt ihr das verstanden?"
Während der Pole die Frage bejahte, wollte der Franzose wissen, ob sie denn wenigstens bei Dunkelheit das Klo aufsuchen dürften, das sich ja im Erdgeschoss der Leibzucht befinde. Baptiste hatte ganz sachlich gefragt und mit ruhiger Stimme gesprochen. Trotzdem antwortete Karl Brammer gereizt, das sei ja wohl selbstverständlich. Auf Grund der Gegenfrage des Franzosen spürte er erneut einen Groll in sich aufkommen, zumal die Frauen am Tisch schmunzelten und Fritz Tegtmeier auflachte, was wieder einmal wie das Meckern einer Ziege klang.
Karl Brammer, der sich von dem Franzosen auf den Arm genommen fühlte, stand vom Stuhl auf und verließ wortlos die Küche. Lina Brammer äußerte anschließend lediglich: "Was hat er denn nun schon wieder?"
"Weiß ich auch nicht," erklärte Sophie Brammer, "lass ihn man, er wird sich schon wieder beruhigen."
Nach dieser Bemerkung verließ auch sie die Küche und suchte ihr Wohn-Schlafzimmer auf.
Als Fritz Tegtmeier mit dem Hinweis aufstand, er wolle jetzt im Stall weitermachen, erhoben sich auch die Gefangenen. Die drei Männer verließen die Küche, während Lina Brammer, ihre Tochter und Marie Tegtmeier das Geschirr abräumten, es abwuschen, es anschließend abtrockneten und an ihren Platz im Schrank stellten.
Am Nachmittag dieses Tages, so gegen zwei Uhr, erschienen die Eheleute Senne mit ihren Fahrrädern auf dem Hof. Karl Brammer war zu dieser Zeit noch in seiner Werkstatt in der kleinen Scheune beschäftigt. Da die Eheleute von dort ein Hämmern hörten, fuhren sie gleich zur Scheune. Als der Bauer die beiden kommen sah, hörte er mit seiner Arbeit auf, blickte sie ernst an und empfing sie ohne vorherige Begrüßung mit den Worten, er habe schon mit ihrem Erscheinen gerechnet. Die 71 Jahre alte Frau Senne begann sofort zu weinen.
"Karl, du hast sicher schon davon gehört, dass sie unseren Heinrich und unsere Polin Marianna verhaftet haben. Wir wissen nicht einmal, wo sie jetzt sind. Kannst du uns nicht helfen, Karl? Du bist doch in der Partei und hast mehrere Ämter."
Karl Brammer blickte Sennenmutter, so wurde sie allgemein genannt, kurz an und dann zu Boden. Er fühlte sich elend und hilflos.
"Karl, du kennst unseren Heinrich doch gut, obwohl er jünger ist als du. Er ist ein treuer und fleißiger Junge. Er hat noch nie etwas mit der Polizei zu tun gehabt. Das weißt du doch. An wen sollen wir uns sonst wenden?" flehte der 73 Jahre alte Ludwig Senne den Bauern an.
Karl Brammer versuchte den bittenden Blicken der Eheleute Senne auszuweichen und schaute deshalb immer wieder auf den Boden.
"Kommt erst einmal mit in die Küche," forderte er nach kurzem Schweigen die beiden Alten auf.
Die drei Personen verließen die kleine Scheune. Die Eheleute Senne schoben ihre Fahrräder bis zum Dielentor, lehnten sie gleich daneben gegen die Hauswand und folgten sodann Karl Brammer schweigend in die Küche. Sennenmutter schluchzte auf dem Weg dorthin.
"Verdammt noch mal," dachte der Bauer, als er durch die Diele schritt, "ständig Probleme, mit denen ich mich herumschlagen muss, ständig Probleme, die nicht meine sind."
Aber er hatte auch Verständnis für die Not der Eheleute, mit deren Erscheinen er gerechnet hatte. Deshalb hatte er während der vergangenen zwei Tage schon einige Male darüber nachgedacht, wie er ihnen helfen konnte. Zu einem Ergebnis war er jedoch nicht gekommen.
Als die drei Personen in der Küche waren, in der sich sonst niemand befand, bat Karl Brammer die Eheleute Senne, am Küchentisch Platz zu nehmen. Dann versuchte er ihnen klar zu machen, dass er im Grunde wenig ausrichten könne. An die Polizei in Grafenhagen brauche er sich erst gar nicht zu wenden, da die mit Sicherheit nicht wüsste, wohin Heinrich gebracht worden sei. Jener sei von der Gestapo, der geheimen Staatspolizei, verhaftet worden, und diese sei eine eigenständige Polizei, die politische Straftaten verfolge. Auch seine Parteigenossen hätten keinen Einfluss auf diesen Polizeiapparat. Karl Brammer, der die Polin bewusst nicht erwähnt hatte, sah die Eheleute Senne hilflos an und schwieg eine Weile. Sennenmutter weinte, und ihr Mann blickte verzweifelt auf den Küchentisch.
"Ich möchte euch gern helfen," versicherte er, "das könnt ihr mir glauben. Aber ich weiß nicht, wie ich das tun kann. Nach Hannover zur Gestapozentrale möchte ich nicht fahren. Ich wüsste nicht einmal, an wen ich mich dort wenden könnte. Ich kenne da niemand. Die würden mich wahrscheinlich von einem zum anderen schicken."
"Und wenn du an sie schreibst?" fragte Sennenmutter mit ein wenig Hoffnung in ihrer Stimme. "Du könntest denen doch unsere Lage schildern. Vielleicht würden sie auf dich hören. Du kannst das besser als wir, Karl. Außerdem sind wir nicht einmal in der Partei. Wer hört schon auf uns?"
"Wir wissen, dass sich unser Heinrich nicht mit der Polin einlassen durfte," unterstützte Ludwig Senne seine Frau, "aber man sollte doch bedenken, dass er im besten Mannesalter und seit drei Jahren Witwer ist. Unsere Marianna war so fleißig , eine treue Seele und hat sich wie eine Mutter um Heinrichs Sohn gekümmert. Der ist doch erst fünf Jahre alt. Vielleicht würde ein Brief helfen. Vielleicht."
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