Anna zog lächelnd ihre Schultern hoch und antwortete: "Wenn sie möchten."
"Merci, Anna. Merci heißt danke," strahlte der Franzose Anna an. "Merci."
Dann verließ Anna die Stallgasse und suchte ihr Wohnzimmer auf. Als sie dort war, erschrak sie, weil sie an sich in den Stall wollte und sie sich nicht erklären konnte, warum sie in ihr Wohnzimmer gegangen war. Sie dachte aber nicht weiter darüber nach. Sie spürte jedoch eine Spannung in sich und eine innere Unsicherheit, die sie nicht deuten konnte. Hinzu kam, dass ihr immer wieder der Akzent von Baptiste in den Ohren klang und dass sie wiederholt sein Bild vor Augen hatte. Sein Akzent hatte sie bereits am Montagvormittag auf der Diele fasziniert. Sie hatte so etwas noch nie erlebt.
"Was ist bloß mit mir los?" fragte sie sich. "Warum bin ich auf Grund des harmlosen Gesprächs mit Baptiste so irritiert?"
Aber sie fand auf diese Fragen keine Antwort. Sie suchte ihr Schlafzimmer auf, das durch eine Tür mit dem Wohnzimmer verbunden war, und blickte aus dem Fenster an der Südseite, ohne jedoch die rechts verlaufende Landstraße bewusst wahrzunehmen, auch nicht den vor dem Fenster befindlichen kleinen Garten, der im Frühjahr, Sommer und im Herbst hauptsächlich von ihrer Mutter und ihrer Großmutter bearbeitet wurde. Im Sommer war er ein Idyll mit vielen Blumen, einigen Reihen Erdbeeren, mehreren Stachelbeer- und Johannisbeerbüschen und einigen Reihen Bohnen. Am Rande dieses Gartens, und zwar zur Weide hin, stand ein großer Kirschbaum, der jetzt noch ohne Blätter war, der jedoch im Sommer einen wunderbaren schattigen Platz bot, der von ihrer Familie an sonnigen Tagen, besonders an Wochenenden und nach Feierabend, häufig genutzt wurde. Bald würde ihr Vater wieder den Gartentisch und die dazu gehörenden Stühle aus der kleinen Scheune holen und sie unter dem Kirschbaum aufstellen. Aber Anna dachte in diesem Augenblick nicht an den Sommer. Sie versuchte ihre für sie eigenartigen Gefühle zu begreifen, für die sie jedoch keine Erklärung hatte. Warum ging ihr der Akzent von Baptiste nicht aus dem Kopf? Und das Gespräch mit ihm? Sie konnte sich nicht erinnern, jemals in einer solch ruhigen, wohltuenden Art mit jemand eine Unterhaltung gehabt zu haben.
Sie ging wieder zurück ins Wohnzimmer, holte aus einem Schrank einen Schreibblock, einen Füllfederhalter und zwei Briefumschläge und legte die Sachen auf den Tisch, um sie am Mittag nicht zu vergessen. Einen Moment betrachtete sie nachdenklich ihr an der Wand hängendes Hochzeitsfoto und das Foto ihres Mannes, das ihn in Uniform zeigte. Dann ging sie in den Stall. Aber auch hier kam ihr wiederholt der angenehme Akzent des Franzosen in Erinnerung. Sie spürte, dass sich etwas in ihrem Empfinden zu verändern begann, dass sie im Begriffe war, ihren inneren Frieden zu verlieren. Nur erklären konnte sie diese Entwicklung noch nicht. Aber sie hatte Angst davor.
Baptiste wirkte nachdenklich, als er die Pferdeboxen ausmistete. Er sah wiederholt Anna vor sich. Er spürte, dass ihn das kurze Gespräch mit ihr irgendwie innerlich bewegte. In den Tagen zuvor hatte er in Anna eine neutrale Person gesehen, die verheiratete Tochter seines Bauern, die wie alle auf dem Hof ihre Arbeit tat und zu der von seiner Seite keine innere Bindung bestand. Baptiste fühlte, dass sich diese distanzierte Beziehung seit dem Gespräch jedoch zu verändern begann.
Er hatte vor seiner Soldatenzeit zwar zwei Freundinnen gehabt, zu denen es aber keine wirklich intimen Beziehungen gegeben hatte, vom Austausch von Zärtlichkeiten mal abgesehen. Auch hatte er in beiden Fällen bewusst keinen Kontakt zu seiner Mutter hergestellt. Es waren lockere Freundschaften gewesen, die ohne schmerzhafte Empfindungen jederzeit hatten gelöst werden können. So war es ja auch gekommen. Jetzt aber spürte er, dass die Gefahr bestand, dass sich eine innere Bindung zu Anna anders entwickeln konnte als zu seinen früheren Freundinnen. Ihm war jedoch auch bewusst, dass eine solche Entwicklung nicht sein durfte, weil er als Kriegsgefangener keinen näheren Kontakt zu Anna haben durfte und weil sie verheiratet war. Vom Verstand her war ihm das alles klar. Aber er war sich nicht sicher, ob er seine aufkommenden Gefühle für sie würde kontrollieren können. Er wusste jedoch schon jetzt, dass er Anna mochte, sehr sogar.
Nach dem Abendessen an diesem Tag suchte Anna alsbald ihr Wohnzimmer auf. Sie hatte das Bedürfnis, allein zu sein. Sie holte sich ein Buch aus dem Wohnzimmerschrank, setzte sich aufs Sofa und begann zu lesen. Schon nach wenigen Minuten legte sie es jedoch wieder zur Seite, weil sie sich nicht konzentrieren konnte. Danach holte sie ein Fotoalbum aus dem Schrank und betrachtete die zahlreichen Aufnahmen, die sie als Kind zeigten, auch ihren verstorbenen Bruder, ihre Eltern und Großeltern, Szenen ihrer Hochzeitsfeier und einige Verwandte. Erinnerungen kamen in ihr auf, und sie spürte, dass diese Beschäftigung mit der Vergangenheit sie ablenkte.
Schon früh ging sie an diesem Abend zu Bett, so gegen neun. Obwohl sie von ihrer Arbeit sehr müde war, konnte sie jedoch zunächst nicht einschlafen, weil ihr viele Gedanken durch den Kopf gingen. Sie dachte an ihren Mann in Ostpreußen, an die Arbeit, die sie während des Tages verrichtet hatte und die sie sich für den nächsten Tag vorgenommen hatte, aber auch an das Gespräch mit Baptiste auf der Stallgasse. Allmählich wurde sie jedoch vom Schlaf übermannt. Aber sie schlief unruhig, weil immer wieder kurze Träume einen Tiefschlaf verhinderten. Zuletzt hatte sie einen Traum, der sie belastete aber gleichzeitig beglückte. Sie sah Baptiste an ihrem Bett stehen, der sich über sie beugte und sie mit ernsten Augen ansah. Anna versuchte wiederholt, sich aufzurichten und Baptiste etwas zu sagen. Aber es gelang ihr nicht. Ihr ganzer Körper erschien so schwer, dass sie ihn nicht anheben konnte. Selbst ihr Kopf blieb trotz großer Anstrengungen im Kissen liegen. Ihre Lippen bewegten sich zwar, aber sie brachte kein Wort heraus. Sie wollte ihre Arme um Baptistes Hals legen, aber sie blieben wie angeklebt liegen, so sehr sie sich auch bemühte, sie zu heben. Über diese Hilflosigkeit geriet sie allmählich derart in Verzweiflung, dass sie plötzlich völlig verschwitzt aufwachte. Sie richtete sich schwer atmend verstört auf, strich benommen ihr langes blondes Haar zurück und sackte gleich danach in sich zusammen.
"Nein," rief sie wie abwehrend mit zitternder Stimme, "das darf nicht sein, Nein, nein, das darf nicht sein."
Dabei erinnerte sie sich aber auch daran, dass sie beim Anblick von Baptiste nicht nur erschrocken gewesen war, sondern auch ein gewisses Glücksgefühl empfunden hatte.
Anna verließ ihr Bett, schob das schwarze Rollo vor dem Fenster zur Weide hin hoch und blickte in die dunkle Nacht. Nichts war zu hören. Sie sah auf ihrem Wecker, der auf dem Nachttisch neben ihrem Bett stand, dass es kurz nach drei Uhr war. Sie öffnete das Fenster und spürte die kühle, fast kalte Luft durch ihr Nachthemd an ihrem Körper. Sie atmete mehrere Male tief durch.
"Mein Gott," dachte sie, "was war das? Warum hatte ich einen solchen Traum?"
Sie hielt dabei ihre linke Hand vor ihren Mund. In diesem Augenblick näherte sich ein Güterzug aus Richtung Hannover auf der gut hundert Meter entfernten Bahntrasse der Strecke Berlin, Hannover, Köln. Das Geräusch der eisernen Räder der Waggons und der Lokomotive auf den Gleisen und der Luftzug, ein Gemisch aus Rauschen und Zischen, schwoll an, war dann eine Weile gleichbleibend, bis der Zug vorbei war, und verebbte danach allmählich. Es war wieder völlig still. Nur schemenhaft sah Anna links die Rückwand der kleinen Scheune und des Stallgebäudes sowie rechts einen Teil der Äste des großen Kirschbaums neben dem Garten.
Nach einigen Minuten schloss sie das Fenster wieder, zog das Rollo herunter, setzte sich auf die Kante ihres Bettes und hielt die Hände vor ihr Gesicht. Wie schon häufig seit der Trennung von ihrem Mann fühlte sie sich in diesem Augenblick unendlich einsam, und sie haderte mit ihrem Schicksal.
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