Hetty stöhnte auf. »Nein, es tut mir nicht leid. Nicht im Geringsten! Wie kommst du nur auf so eine blöde Idee!«
Wenn Kai der Meister der Selbstbeherrschung war, dann würde Patrick wohl immer der Meister der blitzartigen Gefühlswandlungen bleiben. Und wie er es schaffte, so schnell seinen Gurt zu lösen, um sie dann lange und intensiv zu küssen, würde ihr immer ein Rätsel bleiben. Ganz abgesehen davon, dass sie keinerlei Lust hatte, sich jetzt mit solchen Spekulationen abzugeben. Dafür küsste dieser Mann viel zu gut. Und sie erwiderte seinen Kuss nur zu gerne. Denn das würde ihn davon abbringen zu fragen, warum sie denn dann eigentlich geseufzt und welche Frage sie mit Ja beantwortet hatte. Denn die Wahrheit durfte er nie erfahren. Als sie sich schließlich aus seiner Umarmung löste, hatte er diesen Vorfall hoffentlich vergessen.
»Wir müssen fahren, die anderen könnten sich sonst Gedanken machen!« Hetty rutschte wieder zurück auf ihren Sitz und dabei wurde ihr auch bewusst, dass sie sich hier auf einem Parkplatz befanden, der von der Straße aus einsehbar war.
Neben Patrick hatte nur Kai diese alles auslöschende Wirkung auf sie und der Gedanke, dass der sie hätte sehen können, ließ sie erblassen. Auf einen Schlag war sie wieder in der Realität angekommen.
Stirnrunzelnd sah sie Patrick an, der die Augen nicht von ihrem Gesicht gelassen hatte. »Das muss ein Ende haben!«
Die blauen Augen wurden einen Ton dunkler. »Ich weiß!«
Hetty startete den Wagen und fuhr los. Patrick musste in Zukunft außen vor bleiben, Kai wusste schon, warum er darauf bestand, dass der Junge tabu blieb. Und sie würde sich daran halten.
Im ihrem Langzeitgedächtnis sah eine Ganglie die Leute von der Sarkasmusabteilung verbiestert an. »Ich weiß, ich weiß!«
Am Tor zu der Farm von Mollys Eltern stieg Patrick aus, um die großen weißen Flügel zu öffnen. Nachdem Hetty hindurch gefahren war, schloss er sie sorgfältig und nahm erneut im Auto Platz.
Als Hetty wieder losfahren wollte, schüttelte er den Kopf und deutete er auf den Zündschlüssel. »Stell bitte den Motor ab, ich habe dir noch etwas zu sagen!«
Hetty gehorchte und die plötzliche Stille, als das Geräusch des Vierzylinders verstummte, erinnerte an die Ruhe vor einem Sturm. Abwartend sah sie Patrick an. Der wirkte erstaunlich gelassen. Eigentlich hatte sie gedacht, er würde aufgrund ihrer Aussage bedrückt sein.
Doch Patrick sah sie nur an und sagte dann ganz langsam und ganz deutlich betont. »Ich will nie wieder so lange warten!«
Hetty senkte den Blick. Patrick ahnte mehr, als er sollte. Und so wie es aussah, ließ er sich nicht mehr von verneinenden Aussagen ihrerseits, in seiner Meinung beirren. Diese Nacht war das Verkehrteste gewesen, was sie hatte tun können. Im Nachhinein musste sie Kais Verhalten recht geben. Der kannte sie anscheinend besser, als sie sich selbst und hatte gewusst, dass das in einer Katastrophe enden konnte.
Seufzend sah sie ihn an. »Patrick, versteh doch ...«
»Was soll ich verstehen? Dass du Kai mehr liebst, als mich? Das hast du mir zur Genüge erklärt.« Sein Lachen, das auf diese Aussage folgte, klang noch nicht einmal verzweifelt.
Erschreckt erkannte Hetty, dass aus dem unsicheren Jungen von damals, mittlerweile ein Mann geworden war, der genau wusste, was er wollte. Und er wollte sie, das hatte er soeben ganz klar formuliert.
»Patrick, das geht nicht ...« In dem Moment, als sie es aussprach, erkannte sie selbst, welche idiotische These sie soeben zu verbreiten versuchte. Noch vor ein paar Stunden hatten sie sich geliebt, als wenn es kein Morgen gäbe und jetzt erklärte sie, dass es unmöglich wäre. Die Situation hatte sich in der Zwischenzeit nicht geändert. Die Erde drehte sich nach wie vor in die gleiche Richtung, Der Nordpol war oben und der Südpol unten und sie war die Freundin von Kai und er der Mann von Chrissie. Genauso wie vor zwölf Stunden. Was wollte sie ihm da eigentlich vormachen?
Wie immer deutete er jede ihrer Gefühlsregungen und wie stets war es ihm völlig egal, ob irgendjemand sie sehen würde. Patrick würde nie zögern, wenn er eine Chance sah und Hetty erkannte verzweifelt, dass sie es anscheinend nie schaffen würde, ihn abzuweisen. Dazu brauchte sie Kai als Schützenhilfe und der war weit, weit weg.
Glücklicherweise waren die Farmbewohner um diese Zeit noch nicht unterwegs. Die Einzigen, die leicht verwundert das stehende Auto musterten, waren krächzende Galahs. Und das Allerschlimmste dabei war, stellte Hetty fest, als sie endlich weiterfuhren, dass es sie unendlich glücklich machte, dass Patrick sie so sehr liebte.
Der hatte sich inzwischen wieder unter Kontrolle und schloss kurz die Augen, bevor er aus dem Auto stieg, um das Farmhaus von Molly Eltern zu betreten. Er wollte noch einmal diesen Augenblick festhalten, in dem er festgestellt hatte, sie würde immer nachgeben. So sehr sie Kai auch liebte, ihre Liebe zu ihm war immer noch vorhanden. Und damit eine Chance. Die Liedmelodie von "Somewhere" ging ihm durch den Kopf. Im Gegensatz zum Protagonisten in der West Side Story war er noch am Leben und damit war alles offen. Jawohl, er wusste zwar nicht, wie und wann, aber eine Chance war da.
Patrick öffnete die Augen und warf einen Blick auf Hetty. Zumindest ein bisschen etwas von ihrer Liebe gehörte ihm nach wie vor. Und dieses kleine Stückchen würde er nicht loslassen.
Kai saß zwei Tage später leicht grübelnd beim Frühstück. Er war am Abend zuvor zurückgekommen, nachdem er Nat aus der Bredouille geholfen hatte. An und für sich war er sich sicher gewesen, dass er es sich sparen konnte, sich Gedanken über den weiteren Verlauf des damaligen Abends zu machen. Dann war ihm aufgefallen, dass Patrick vermied, in seiner Gegenwart zu viel Blickkontakt mit Hetty aufzunehmen und das war der erste Moment gewesen, als ihm ein Verdacht gekommen war. Die anschließende Nacht hatte dann nicht gerade dafür gesorgt, dass sich diese Idee in Luft auflöste.
Denn Hetty hatte eine Angewohnheit, die ihr selbst nicht bewusst war und die Kai immer verriet, wann sie ein schlechtes Gewissen drückte. Und jedes Mal, wenn sie bisher von einem Ausflug nach Airlie zurückgekommen war, der in Troys Bett geendet hatte, waren ihre Liebesbezeugungen noch etwas intensiver gewesen, als normal. Genauso wie diese Nacht. Das konnte in den Augen von Kai nur eines bedeuten, nämlich, dass irgendetwas vorgefallen war. Und wenn er jetzt dann zwei und zwei zusammenzählte, konnte das nur mit Patrick zu tun haben. Er musste unbedingt mit Hashimoto reden. Kai zuckte mit den Schultern. Wahrscheinlich bildete er sich nur etwas ein.
Drei Tage später fuhr er trotzdem nach der Arbeit noch kurz bei seinem Freund vorbei, um wirklich sicher zu gehen.
Der grinste ihn an, als er seinen Verdacht äußerte und meinte. »Keine Sorge, der war richtig schön müde und hat sich gähnend verabschiedet. Susi hat ihm sein Zimmer gezeigt und das wars.«
Kai sah den Japaner an und runzelte die Stirn. »Warum hast du ihn nicht selbst begleitet?«
Hashimoto überlegte kurz und meinte dann. »Ich war ziemlich hinüber und wollte nur noch schlafen. Und Susi hat sich sowieso die ganze Zeit mit ihm unterhalten.«
Kai nickte und stellte die nächste Frage. »Was war mit Hetty?«
Sein Freund lachte. »Du kennst sie doch. Die war wie üblich noch hellwach, hat sich noch eine Flasche Wein gekrallt und ist noch eine Runde im Pool geschwommen.«
Kai stöhnte auf. »Und ich gehe mal davon aus, du hast in aller Ruhe den Schlaf des Gerechten geschlafen? Könnte es sein, dass du am Morgen etwas desorientiert warst und dir der Kopf gebrummt hat?«
Hashimoto starrte ihn an, als ihm aufging, was diese Frage bedeutete. Er brauchte mehrere Anläufe, bis er hervorpresste. »Der Schweinehund hat die Gläser getauscht!«
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