Die Sonette und Gedichte, die ich schrieb,
trugen die Trauerkleidung ihrer Melancholie,
ewiges und graues Leben ohne Rausch
unter dem Grabstein ihrer letzten Tage.
* * *
Heute wurde Oma auf dem Friedhof beerdigt. Es war herbstlich und nass, als ob der Himmel wegen Petrowna geweint hat. Sie muss jetzt nicht mehr leiden, alles ist Vergangenheit. So wünsche ich es auch mir im Alter, unbedingt im Herbst, wenn die Natur selbst zu sterben scheint.
Und was danach passierte, ist noch schwerer zu schreiben.
Die Deutschen haben einen ihrer Kameraden beerdigt. Plötzlich rannte Adrians Mutter mit der Heugabel in der Hand direkt auf die Deutschen los. Alle standen wie gelähmt vor Schreck! Und dann habe ich ihn gesehen!
Er nahm die Pistole, er zielte, er hat Iljinitschna erschossen.
Werde ich das irgendwann vergessen können?
Ich will leben.
Kapitel 5
Der deutsche Gast
Draußen hinter dem Fenster war es trüb und es wurde immer dunkler. Ljuba schrieb im Licht einer Öllampe die Eindrücke des vergangenen Tages in ihr Tagebuch. Sie war ein wenig nervös, als sie mit ihrer Feder schrieb: „Ich will leben...“ Ljuba tunkte ihre Feder in die Tinte und setzte mehrere Punkte. Beim letzten Punkt hatte sie die Feder etwas zu kräftig auf das Papier gedrückt und aus dem Punkt wurde ein Tintenklecks.
„Ja, ich will leben! Punkt! So ist es nur noch deutlicher“, Ljuba legte die Feder zur Seite und pustete leicht über das Blatt, bevor sie das Heft zumachte.
Die junge Frau saß am Wohnzimmertisch neben dem großen Ofen, in dem das Holz lustig brannte und das ganze Haus wohlig erwärmte. Er war weiß gestrichen und an der Seite war ein Vorsprung angebaut, auf dem man auch sehr angenehm schlafen konnte. Der Ofen war so groß, dass er den zentralen Platz im Haus einnahm. Er teilte es in zwei Hälften: in das Wohnzimmer auf der einen Seite und auf der anderen Seite gab es ein großes Schlafzimmer, in dem Ljubas Eltern schliefen und früher ihre Oma, als sie noch lebte. Ljuba bevorzugte das Bett auf der Ofenbank.
Plötzlich hörte sie die verkrampfte Stimme ihrer Mutter: „Trinken! Ich möchte etwas trinken... Ljuba, wo bist du?“, stöhnte Nina vom Bett.
Ljuba stand schnell auf, ging hinter den Vorhang. Sie trat an das Bett der Mutter und berührte ihre Stirn.
„Du hast ja Fieber! Mama, bist du krank?“, fragte Ljuba erschrocken.
„Durst... Gib mir was zu trinken!“
„Sofort, Mama!“
Ljuba ging in den Korridor des Hauses und sah, dass im Eimer kein Wasser mehr war: „Vater hat schon wieder das ganze Wasser aufgebraucht. Aber Wasser ins Haus zu bringen, dafür ist er zu faul! Jetzt darf ich wieder zum Brunnen gehen“. Sie ging hinaus. Es war kalt, dunkel und ungemütlich.
„Nein, ich habe keine Angst!“, Ljuba machte sich Mut und ging in die Dunkelheit.
Als sich Ljubas Augen daran gewöhnt hatten, erblickte sie plötzlich die Silhouette eines Mannes, der auf der anderen Straßenseite leise am Zaun entlang schlich. Ljuba konnte sogar erkennen, dass der Unbekannte ein Gewehr über der Schulter trug. Es war eindeutig kein Polizist.
„Wer ist das? Ein Partisan? Und mein Vater schläft!“, Ljuba bekam Angst. Als sie sich wieder zusammengerissen hatte, merkte Ljuba, dass sie sich selbst den Mund zugehalten hatte:
„O mein Gott, Mama! Sie wartet auf mich! Nein, es gibt keine Partisanen, diese Erscheinung war nur ein Abbild meiner Angst!“
Obwohl sie vor Furcht mit den Zähnen klapperte, versuchte Ljuba so leise wie nur möglich zu atmen. Sie ging weiter und drückte sich an den Zaun, um ihren Schatten zu verbergen.
Nach einigen Metern erreichte Ljuba schließlich den Brunnen.
Auf dem Rückweg vernahm sie die aufgeregten Stimmen eines Mannes und einer Frau. Plötzlich war ihre Angst wie weggeblasen, als ob sie nie da gewesen wäre. Ljuba ließ den Eimer mit Wasser am Zaun stehen und rannte in die Richtung, aus der das Gespräch kam. Das Pärchen unterhielt sich (oder war es doch ein Streit?) direkt im Hof von Anna, neben dem Gartenschuppen. Noch während sie sich näherte, konnte Ljuba deutlich hören...
„Jetzt ist mir alles klar!“, sagte laut die Stimme des Mannes.
„Was ist dir klar?“, fragte etwas leiser die Frauenstimme.
„Was mir klar ist? Du bist mit dem Deutschen zusammen!“, sprach die Stimme des Mannes noch lauter weiter.
„Boris, das ist nicht wahr!“, antwortete die Frauenstimme, die jetzt auch lauter sprach.
„Lass mich! Ich kenne dich nicht mehr!“, sagte die Stimme des Mannes schroff.
„Boris!!!“, es war Annas Schrei.
Ljuba stand auf der anderen Seite des Gartenschuppens und sah deutlich, wie Boris schnellen Schrittes an ihr vorbei ging.
„Das ist der Partisan!“, Ljuba war so verwundert, dass sie alle Ängste vergaß.
Ljuba sah ihm nach und ihr fiel auf, dass er sich gar nicht versteckte... Sie hörte wie Anna weint, aber näher zu ihr zu gehen um sie zu beruhigen, daran dachte Ljuba in diesem Moment nicht.
Ljuba konnte nicht mehr klar denken. Die Gedanken in ihrem Kopf waren chaotisch: „So was! Boris besucht Anna! Jans Bruder ist jetzt also Partisan? Ich verstehe nichts mehr... Sie schreien vom Hof in das ganze Dorf hinein! Was sagte er noch mal? Ach ja, der Deutsche... ist mit ihr... Also mit Anna... He, das ist doch nichts Neues! Das ganze Dorf spricht darüber! Und Boris sieht aus, als käme er direkt aus dem Wald... Genau... aus dem Wald! O, Gott! Wohin schauen die Deutschen und die Polizisten? Vor ihrer Nase gehen hier Partisanen spazieren... Oder machen sie alle Feierabend mit Frauen oder Alkohol? Oder mit beidem? Und wo ist der Offizier, der bei Anna wohnt? Noch in der Kommandantur? Er hätte doch die Szene aus dem Haus bemerken müssen!“
Dann merkte Ljuba, dass drüben im Hof das Weinen aufhörte und die Tür geschlossen wurde.
„Ich muss nach Hause! Mama wartet auf mich! Sie hat Durst! Meine Güte, jetzt muss ich aber schnell zu dir laufen, Mama! Entschuldige, ich bin sofort da!“, Ljuba lief so schnell sie konnte zu dem Platz, wo sie den Eimer abgestellt hatte. Sie ergriff ihn und setzte ihren Weg fort. Beim Abbiegen um die Ecke stieß sie plötzlich mit Thomas zusammen. Der Zusammenprall verschüttete fast die Hälfte des Wassers über den Offiziersmantel.
„Du russische Sau!“, Thomas schlug mit der Hand auf sie ein.
Ljuba sank zu Boden. Er wollte noch mit dem Fuß nach ihr treten, als er plötzlich hörte:
„Verzeihung! Bitte!“
Thomas beugte sich herunter und nahm sie an ihrer Jacke hoch. Dabei bemerkte Ljuba den Schnapsgeruch. Das war das erste Mal. Sonst roch sie sein Parfüm immer sehr gern! Und jetzt...
Nein, Ljuba hatte keine Angst vor ihm. In ihrer Fantasie war Thomas ihr Mann. In ihrer Seele herrschte sie sogar über ihn... Und in der Realität... das interessierte Ljuba nicht.
Sie stand vor ihm, ihre Wange brannte von dem Schlag.
„Du?... Was willst du hier? Schau was du gemacht hast“, Thomas zeigte seinen nassen Mantel.
Ljuba dachte: „Wie aus der Traufe gezogen...“ Sie wurde vielleicht auch durch diesen Anblick mutig. Die junge Frau stand aufrecht und begann: „Es tut mir... sehr leid... Herr Offizier!...“
In solchen Augenblicken wusste Ljuba nie, was sie sagen sollte. Die junge Frau fürchtete etwas Falsches zu sagen und dass er sie missverstehen könnte. Ljuba stand vor ihm, klein, aber sehr selbstbewusst. Sie hatte keine Angst vor Thomas, irgendwie freute Ljuba sich sogar über dieses Zusammentreffen. Die seelischen Qualen, die ihr seine Beleidigungen zufügten, schmerzten sie mehr, als jede körperliche Gewalt vermocht hätte. Einen Moment lang dachte Ljuba, dass sie ihn zwischen die Beine treten und schnell um die Ecke verschwinden sollte, so wie sie es früher auch mit anderen Jungen gemacht hatte.
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